Profiradfahrer wissen nichts über Straßenverkehrsregeln. Die meisten Belgier auch nicht. Daher betrachte ich es als ungünstige Gegebenheit, dass die belgischen Profiradfahrer von Palmans-Collstrop eine große Kreuzung direkt vor ihrem Hotel haben, die sie überqueren müssen, um zum Start zu gelangen. Da sollten sich die Organisatoren der Rundfahrt vielleicht für´s nächste Jahr eine andere Lösung einfallen lassen, um die Beinahe-Unfälle des heutigen Morgens nicht noch einmal herauf zu beschwören. Oder sie veranstalten einen Einführungskurs: "Das Stopp-Schild" oder "Warum ich als Radfahrer bremsen sollte, wenn ein dicker Mercedes Vorfahrt hat.". Aber das nur als Anregung. Wie an den vorangegangenen Tagen haben es sich die Teams auch heute nicht nehmen lassen, sich möglichst weit in der Gegend zu zerstreuen. Lina, Christine, Michael und ich passen uns an und verteilen uns ebenfalls in alle Himmelsrichtungen. Dabei entdecke ich eher unfreiwillig eine neue Methode, Paolo Bettini zum Lachen zu bringen: Man braucht sich nur so wie ich im Absperrband mit der Haarspange zu verheddern, sich beim Befreiungsversuch das Band gegen die Nase zu ploppen und schon kichert der Italiener vor sich hin. Naja, immerhin habe ich im Gegensatz zu ihm noch genug Haare auf dem Kopf, um eine Spange tragen zu können... .
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Auch heute darf Patrik Sinkewitz sein schickes Kuhflecken-"Die Milch macht´s"-Trikot des besten Nachwuchsfahrers durch die Gegend fahren. Hans-Michael Holczer, seines Zeichens Oberhäuptling der Gerolsteiner, kann sich genauso wie ich für Sinkewitz´ Trikot begeistern und kommentiert es mit "Na, einer muss ja den Milchbubi geben!". Vielleicht ist es aber auch nur ein Versuch, Sinkewitz einen moralischen Knacks zu versetzen. Denn immerhin liegt er auf Platz zwei in der Gesamtwertung direkt hinter Gerolsteiner´s Michael Rich.
Nachdem die Radler auf die Reise gegangen sind, verabschieden wir drei Mädels uns von Michael, der jetzt dringend den versäumten Schlaf der letzten durchgefeierten Nächte nachholen muss. Da wir nicht gerne allein sind und wieder von den Ortskenntnissen einheimischer Personen profitieren wollen, zwingen wir Friedrich (Zilpzalp) per Gedankenübertragung dazu, Christine auf ihrem Handy anzurufen und sich mit uns an der Verpflegung zu treffen.
Dort angekommen gesellen wir uns zu den Fakta-Betreuern Eric und Rudy und zum Phonak-Betreuer James. Ich melde mich freiwillig und lasse James seine Massagekünste an meinen Schultern vorführen - ein echter Grund, doch Profiradler zu werden. Wobei ich das Radfahren auslasse und gleich zur Massage übergehe, vorausgesetzt, mein Schulternkneter verwendet etwas weniger Massageöl und schmaddert mich nicht ganz so sehr damit voll.
Zur leichten Verwunderung der Fakta-Betreuer ("Nanu, was ist denn mit dem los?") hat sich ihr Schützling Bjarke Nielsen zusammen mit Crédit Agricole´s Stephane Augé und Jean Delatour´s Laurent Lefèvre vom Feld abgesetzt. Als Friedrich, sein Sohnemann (bekannt als "Findus" aus dem Tippspiel), Lina, Christine und ich wenig später an einer Bergwertung (die ihren Namen kaum verdient) stehen, liegen die drei noch immer vorne.
Auch im Zielort Freystadt hat sich das Bild des Rennen´s nicht verändert: Die drei Ausreißer fahren vor dem Feld. Im Sprint setzt sich Lefèvre vor Augé und Nielsen durch, und wenn das nicht schon Wettkampf genug für den Franzosen gewesen wäre, duelliert er sich beim Umziehen auch noch mit Patrik Sinkewitz in der Disziplin "Urwald-Wuchs auf der Brust". Wieder gewinnt Lefèvre. [Anmerkung der Redaktion: Das verwundert die Redaktion nicht sonderlich...]
Ergebnis:
<typolist type="1">
Laurent Lefevre Jean Delatour
Stéphane Auge Crédit Agricole
Bjarke Nielsen Team fakta
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Nachdem die Siegerehrung beendet und alle Radler in ihre Hotels verschwunden sind, haben Lina, Christine und ich ausreichend Zeit für einen kleinen Abend-Imbiss. Ich wende mich wieder dem original-bayrischen Leberkäse zu, der aber in Freystadt nicht so gut schmeckt wie in Michael´s Heimat Röhrnbach. Vielleicht ist´s aber auch die Band, die auf dem um uns herum stattfindenden Stadtfest spielt, die mir den Appetit verdirbt. Denn ohne Rücksicht auf Verluste covern sie die aktuellen Charts rauf und runter. Selbst vor Liedern des "heiligen" Robbie Williams schrecken sie nicht zurück.
Gegenüber unseres Sitzplatzes befindet sich das Hotel, in dem unter anderem Telekom einquartiert wurde. Der eh schon von seinen Fans verfolgte Erik Zabel hat - das Schicksal wollte es so - ein Zimmer erwischt, das direkt auf den zuschauerüberströmten Festplatz reicht. Als er sein Fenster im zweiten Stock öffnet, versammeln sich jede Menge Magenta-Fans vor dem Hotel und "Fensterln" mit "Erik! Erik!"-Rufen. Er erhört sie jedoch nicht.
Die Fakta-Betreuer haben eindeutig zu viel Vertrauen zu mir. Denn sie übergeben das Allerheiligste ihres Teams in meine Obhut. Nein, nicht den Camper oder das Auto. Auch nicht die Räder oder die Fahrer. Ich bekomme zur Verwahrung den Massageöl-Koffer! Eine einmalige Chance, zur Diebin zu werden. Bis zu meinem Auto sind es gut 300 Meter. Die schaffe ich im Sprint, und wenn mich keiner mit dem Rad auf den 300 Metern verfolgt, stehen meine Chancen recht gut, dass ich den Koffer entführen kann. Vielleicht zahlen die Faktas sogar Lösegeld. Ich würde noch mehr Massageöl fordern... .
Letztendlich traue ich mich aber nicht. Ich will es mir ja auch nicht mit den Dänen verscherzen.
Erik Zabel hat auch heute wieder keinen leichten Tag. Ansatzweise tut er mir sogar leid. Denn schon im Hotelfoyer steht ein Haufen Kinder und brüllt "Erik! Erik". Später, als noch immer nichts von ihm zu sehen ist, schreien sie mit mehr Nachdruck "Erik Zabel! Erik Zabel!". Spätestens jetzt weiß der Telekom-seit-gestern-auch-Bergziege-Sprinter, dass er gemeint ist.
Als er sich endlich aus dem Hotel traut, muss er sich bis zum Camper durch die Fanmassen wühlen. Um zur Einschreibung zu gelangen, wiederholt er das Spiel vom Vortag: Weil anderswo kein Durchkommen ist, klettert er durch die Fahrertür des Campers, um dann so schnell wie möglich zum Einschreiben zu fahren. Hinter ihm herlaufend zirka 20 Kinder, die "Eeeeeriiiikkk!! Auuuttoooggrrraaaahhhaaaammmmm!!" kreischen und erst von Security-Leuten an der Absperrung gestoppt werden.
Jens Voigt hat es hingegen leichter: Seine Hauptaufgabe besteht nicht darin, vor wilden Fans zu flüchten, sondern mit den Rundfahrt-Hostessen zu flirten. Für die vier um ihn gescharten Mädels kramt er seinen Mecklenburger Charme, wenn man das so nennen kann, heraus.
Der einzige, der am heutigen Morgen weder kreischende Fans noch Hostessen um sich hat, ist QuickStep´s Paolo Bettini. Einsam und verlassen sitzt er in einem Café. Nur ein Freund ist ihm noch geblieben: Ein Hammer. Weil der kleine Italiener sonst nichts zu tun hat, klopft er mit dem Baugerät auf seinem Helm herum. Den Sinn dieses Verhaltens muss man nicht verstehen, denke ich.
Das Parken unseres Wagens an der Verpflegung gestaltet sich etwas schwierig: Die Vorgegebene Verpflegungszone besteht aus jeder Menge Abfahrten und einem einzigen, durch Leitplanken begrenzten Anstieg. Folglich quetschen sich alle Teamwagen in irgendwelche Seitenstraßen direkt in der Steigung.
Ich wähle eine immer-der-Nase-nach-Route über Feldwege und lande schließlich auf einem Parallelweg zur Hauptstraße hinter der Leitplanke direkt beim Phonak-Wagen. Betreuer James ist recht beeindruckt ("How the fuck did you get on that road?!") und auch ich muss eine kurze Selbstbeweihräucherung meines Orientierungssinnes einlegen.
Sprinter mögen keine Berge. Die meisten Sprinter mögen auch keine Hügel. Vereinzelte Sprinter mögen sogar keine Brücken mit Steigung. Zu letzterer Sorte zählt Ivan Quaranta (Saeco). Nachdem erst eine Spitzengruppe und dann Verfolger Tjarko Kuppens (ComNet Senges) die Verpflegung hinter sich gebracht haben, kommt Quaranta zusammen mit dem Hauptfeld an die Essensausgabe. Und an die Brücke mit Steigung. Er beschließt, das Rennen vorzeitig zu beenden, sich die Fahrt auf den Hügel zu sparen und lieber zu seinen Betreuern in den Wagen zu steigen.
Das Feld selbst wird von einem Oktos-Fahrer angeführt. Vielleicht vor lauter Freude, weil er endlich mal ganz vorne fährt, rutscht ihm sein eben noch vorbildlich gefangener Verpflegungsbeutel aus der Hand und landet mitten auf der Straße. Großes Fluchen und Schimpfen hinter ihm im Feld, wobei "Verdammte Scheiße du Arsch" der am häufigsten gebrauchte Satz ist, um dem Oktos-Mann die Leviten zu lesen.
Wahrscheinlich wird er nie wieder vorne fahren wollen.
Positiv muss ich noch das Verhalten von Fakta´s Michael Reihs an der Verpflegung erwähnen: Nachdem er alle ekelhaften Sachen (Müsliriegel, Engergygels etc.) aus seinem Beutel heraus gesucht hat, wirft er mir den Rest (Kuchen und Honigwaffeln) vor die Füße. Wohl gemerkt VOR die Füße. Nicht AUF die Füße - das macht dafür einer aus der Quick-Step-Bande.
Das Ziel in Höchstadt a.d. Aisch befindet sich gerade noch so im Ort, 250 Meter hinter der Ziellinie steht das Ortsschild. Eigentlich keine gute Voraussetzung, um Zuschauer an die Rennstrecke zu ziehen. Trotzdem ist es brechend voll. Dabei gibt es gar nicht so viele Bier- und Bratwurst-Stände.
Ein Sturz des Feldes kurz hinter der Ziellinie bewegt den Großteil der Fahrer, schon mal die Duschen anzupeilen. Frisch gewaschen fangen mich Ivan Quaranta und Giosuè Bonomi ab, um ihre Zuneigung für einander auf einem Foto von mir festhalten zu lassen. Oder so ähnlich. Mangelnde Italienischkenntnisse meinerseits verhindern, dass ich auch nur ansatzweise verstehe, was mir die beiden Herren erzählen. Aber immerhin riechen sie gut.
Kaum bin ich die beiden Italiener wieder los, beschlagnahmt mich ein Quick.Step-Betreuer und will mir den Weg zu Telekom zeigen. Leider will ich gar nicht zu Telekom. "Du magst nicht Zabel?" fragt er verwirrt. Ich erkläre, dass ich andere Favoriten habe. "Aber alle Deutschen mögen Zabel!" entgegnet er entsetzt. Da ich sein Bild "Der typische deutsche Radsportfan" schon angeknackst habe, mache ich mich daran, es komplett zu revolutionieren und erkläre, dass ich Quick.Step viel besser als Telekom finde. Seine Kinnlade klappt auf den Bürgersteig. "Welche Fahrer magst du?" will er wissen. Ich zähle all meine Faves auf, die mir gerade in den Sinn kommen: Museeuw, Bettini, Paolini, Boonen... . "Aah, Tom!" quietscht der Betreuer, "Alle Frauen mögen Tom!". Aus einschlägigen optischen und fahrerischen Gründen kann ich ihm nur zustimmen. Er grinst mich an: "Ich habe seine Telefonnummer...", zückt sein Handy und zeigt mir den Eintrag "Tom Boonen" direkt über "Vandenbroucke". Die Vorwahl kann ich mir gerade noch merken und dann war da irgendwo noch eine 48 drin.... aber insgesamt gesehen scheitere ich kläglich daran, mir die ca. sechzehn Ziffern zu merken. Sollte jemand Erfahrungen im Bereich der Hypnose haben, bin ich gerne bereit, "zurück zu gehen" und tief in meinem Hirn nach der Nummer zu kramen.
Denn irgendwo in meinem Kopf steckt die Telefonnummer von Tom Boonen. Eine Vorstellung, die mir wirklich gut gefällt... .
Ergebnis:
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Johan Coenen Marlux-Wincor Nixdorf
Bert Grabsch Phonak Hearing Systems
Andrey Kashechkin Quick.Step-Davitamon
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Gesamtwertung:
Michael Rich Gerolsteiner
Sprintwertung:
Olaf Pollack Gerolsteiner
Bergwertung:
Malte Urban Nationalmannschaft Deutschland, Straße
Nachwuchswertung:
Patrik Sinkwitz Quick.Step Davitamon