Kochender AsphaltUnd die sengende Sonne kannte kein Erbarmen: Auch beim Rennen um den Einzeltitel brannte sie erbarmungslos auf die Straßen Roms. Die Quecksilbersäule stieg am Mittag auf fast 45 Grad an – kein ideales Wetter für 175 Kilometer Schinderei auf dem Rad! Die Frage war, wer sich bei diesen extremen Bedingungen seine Kraft würde am besten einteilen können. Die Italiener, die mit dem Sieg im Mannschaftsfahren ihre Stärke bewiesen hatten und den Heimvorteil auf ihrer Seite wussten? Die DDR-Fahrer, die im bisherigen Rennjahr alle wichtigen Rennen dominiert hatten? Würden die sowjetische Mannschaft, dritte im 100km-Rennen, in die Entscheidung eingreifen können?
Die Erwartungen in Deutschland, und hierin waren sich beide Teilstaaten ausnahmsweise einig, waren klar formuliert: Die erste Goldmedaille dieser Spiele sollte her! Mit Hagen, Schur und Eckstein sollte sich doch eine taktische Variante finden, an denen sich die anderen die Zähne ausbeißen würden…
Aber jedes Rennen will erst einmal gefahren sein. Die Initiative auf dem kochenden Asphalt ergriffen nämlich die Herausforderer: In der achten von zwölf Runden, also knapp 60 Kilometer vor dem Ziel, attackierte Viktor Kapitonow aus der sowjetischen Mannschaft. Die italienische Squadra reagierte und Livio Trapé setzte dem Attackierer nach. Ein „kühler Kopf“ ist manchmal hinderlich…Damit waren nun zwei Männer in Front, die keineswegs unbeschriebene Blätter waren. Der 27-jährige Kapitonov errang sieben Mal (!) den Meistertitel seines Landes, sein Debüt bei der Friedensfahrt gab er 1958 mit drei Tagessiegen und einem siebenten Platz im Gesamtklassement. Livio Trapés größter Erfolg lag erst wenige Tage zurück: Er gehörte zum Goldvierer im 100km-Mannschaftsfahren. Auch bei der Weltmeisterschaft vor vier Wochen auf dem Sachsenring hatte er zur rennbestimmenden Spitzengruppe gehört. Die Frage für die deutsche Mannschaft stand: Wie reagieren?
Man entschied sich für´s Abwarten. Vorne waren sie nur zu zweit, und die Attacke kam bei dieser Hitze doch viel zu früh! Die Devise hieß: „Kräfte sparen!“ für die letzten Runden und das Finale. Knapp zwei Minuten konnten so die beiden Ausreißer zwischen sich und das Feld bringen, bevor in der zehnten Runde endlich hinten Bewegung aufkam. Hagen, Adler, Eckstein und Schur spannten sich abwechselnd vor das Feld, um Kapitonov und Trapé zu stellen. Den Belgiern, Holländern und Polen, die sich immerhin Außenseiterchancen ausrechneten, war das nur recht – sollten die Favoriten die Kohlen mal schön selbst aus dem Feuer holen! Und tatsächlich, der Vorsprung begann zu sinken, die Rechnung schien aufzugehen.
Solch kühle Berechnungen stellte von den beiden Führenden keiner an. Im Gegenteil: Kapitonov kämpfte schwer mit den Bedingungen. Noch Jahre später konnte er sich genau an die Backofenhitze erinnern, die ihm fast den Verstand zu rauben schien. Und das im wahrsten Sinne des Wortes! „Noch viele Jahre später durchzuckte mich jedes Mal ein Schreck, wenn ich an mein Rennen bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom dachte", sagte er später, und dazu hatte er allen Grund… Zu früh gefreut!Denn kurz bevor das Duo zum vorletzten Male die Ziellinie erreichte, zog Kapitonov vor den Augen seines verdutzten Begleiters den Sprint an! "Die wahnsinnige Hitze muss mich irritiert haben“, erinnerte sich der Russe im Nachhinein. „Ich glaubte plötzlich, jetzt hast du alles überstanden und riss den Arm zum Zeichen meines Sieges hoch. Unser Trainer, die Mechaniker und meine bereits ausgeschiedenen Mannschaftskameraden winkten wie wild. Ich wollte vom Rad, aber meine Leute schrieen - weiterfahren!"
Livio Trapé rieb sich die Augen. War er oder sein Begleiter einer Hitzefantasie erlegen? Aber Sekundenbruchteile später erkannte er seine Chance und erhöhte das Tempo – jetzt angreifen oder nie! Noch 14,5 Kilometer lagen zwischen ihm und seiner zweiten Goldmedaille bei diesen Spielen, und schnell hatte er einen Vorsprung von fast einer halben Minute auf Kapitonov herausgefahren. Von hinten eilte das Hauptfeld heran, das den Russen bald schlucken würde – Trapé könnte mit diesem Sieg in die olympische Geschichte eingehen! Doch auch er hatte sich zu früh gefreut. Denn Kapitonov sammelte noch einmal alle Kräfte und gab sich keineswegs geschlagen. Sollte er dieses Rennen wirklich als Gespött des Pelotons beenden? Nein, dann lieber bis zum Umfallen kämpfen! Und so schob sich das Geschehen auf der letzten Runde immer weiter zusammen. Trapé verlor Meter um Meter auf Kapitonov, dem wiederum saß das heranjagende Feld im Nacken. Sekunde um Sekunde schmolzen die Abstände, und als Trapé die Zielgerade auf der Via Flaminia erreichte, war auch Kapitonov wieder an seinem Hinterrad. Nun ging es um alles: Doppelolympiasieg für Trapé und Spott für Kapitonov oder der erste Olympiasieg für einen sowjetischen Fahrer? Keinen Zentimeter schenkten sich die beiden Kontrahenten, noch einmal holten sie alles aus ihren müden Beinen, und am Ende entschied eine Reifenbreite – für Kapitonov! Kleinlaute VerliererZwanzig Sekunden hatten die siegreichen Ausreißer vor dem Feld gerettet, welches von einem alten Bekannten über die Ziellinie geführt wurde: Willy Vandenberghen aus Belgien. Damit hatte der Zwanzigjährige das Kunststück vollbracht, bei den drei wichtigsten Amateurrennen des Jahres 1960 auf dem Podium zu landen! Die favorisierten Fahrer aus der deutschen Mannschaft aber rollten geschlagen ins Ziel, das Klassement verzeichnet sie auf den Plätzen 20 bis 23: Egon Adler, Erich Hagen, Bernhardt Eckstein, Gustav-Adolf Schur. Die deutschsprachigen Berichterstatter waren enttäuscht – zu offensichtlich hatten sich die Favoriten verpokert. In der DDR übertünchte man die Enttäuschung mit der Freude über den Sieg des „Großen Bruders“ Sowjetunion. Immerhin gewann ein Fahrer aus einem sozialistischen Land. Auch ein Punkt im Kampf der Systeme!
Gustav Adolf Schur erwähnt dieses Rennen in seinen Memoiren übrigens mit keiner Silbe, er wird wissen, warum…
Viktor Kapitonov aber gab später freimütig zu, dass er ohne seinen „Sonnenstich“ wohl nie Olympiasieger geworden wäre. Im Leben nicht hätte er attackiert, wenn er sich nicht um eine Runde verzählt hätte. So eine Attacke wäre ja viel zu früh gekommen und damit aussichtslos gewesen…
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