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Straßenweltmeisterschaft der Amateure 1960

von torte

 

Der folgende Bericht über die WM 1960 ist Teil einer kleinen Serie über den DDR-Radsport des Jahres 1960

 

Teil 1:   >>> Radsport im "Kalten Krieg" 

Teil 2:   >>> der Internationalen Friedensfahrt 1960

Teil 3:   >>> die Straßenweltmeisterschaft der Amateure 1960

Teil 4:   >>> Olympische Spiele 1960

 



Monumente

Das erste „Monument“ des Amateurradsports des Jahres 1960, die Friedensfahrt, gewann Erich Hagen auf dem Zielstrich in Berlin, unterstützt von einer überragenden DDR-Mannschaft, deren Fahrer zehn von dreizehn Etappen gewannen. Für die Weltmeisterschaften der Amateure desselben Jahres war die Favoritenrolle damit vergeben: wer Weltmeister werden wollte, würde den amtierenden Träger des Regenbogentrikots, Gustav Adolf Schur, und seine Mannschaft hinter sich lassen müssen. Zumal die DDR-Equipe auch den Heimvorteil auf ihrer Seite wusste. Zum ersten Male wurden Radweltmeisterschaften in einem sozialistischen Land ausgetragen, die Wettkämpfe sollten vom 3. bis zum 14. August 1960 in Leipzig, Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt) und auf dem Sachsenring bei Hohenstein-Ernstthal stattfinden.



Weltmeisterschaften in der „Sowjetzone“

Logo der WM 1960

Um diese Weltmeisterschaften hatte die DDR hart gerungen, und die Vergabe an den „Ersten sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ hatte international keineswegs nur Zustimmung geerntet. Adriano Rodoni, italienischer UCI-Präsident seit 1957, verteidigte die Entscheidung seiner Organisation jedoch gegen alle Anwürfe. Und diese Proteste kamen vor allen Dingen – die politischen Handlungsmuster des Kalten Krieges waren voll wirksam – aus dem zweiten deutschen Staat, der Bundesrepublik Deutschland. Den Prestigegewinn, den sich die DDR durch die internationale Aufmerksamkeit für die WM sichern wollte, versuchte die Berichterstattung aus der BRD zu schmälern, wo es nur ging. Süffisante Hinweise auf die angeblich schlechten Bedingungen im Mangelsystem fehlen nirgends, und die Staatsbezeichnung „DDR“ ist absolutes Tabu. Für den Westen finden die Weltmeisterschaften in der „Sowjetzone“ statt, am Start stehen für westliche Berichterstatter „deutsche“ und „sowjetzonale“ Sportler…

 

Die DDR hatte ihrerseits mehrere Rollen rückwärts vollbracht, um die WM ins Land zu holen. Ohne Murren wurde auch die Austragung der Profiwettkämpfe akzeptiert, obwohl Profisport für die Staatsdoktrin ansonsten völlig inakzeptabel war. Und UCI-Präsident Rodoni wurde praktisch zur Eröffnung der WM mit dem „Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Silber“ dekoriert. Obwohl er seine Karriere unter wenig ruhmreichen Vorzeichen in Mussolinis Sportsystem begann…



High Noon auf dem Sachsenring

Aus Sicht der DDR war das Strassenrennen der Amateure am 13. August auf dem Sachsenring das absolute Highlight der Weltmeisterschaften. Gustav Adolf Schur sollte hier zum dritten Male in Folge das Regenbogentrikot erringen, und somit wurde alles getan, um eine würdige Atmosphäre für diesen anvisierten „Sieg des Sozialismus“ zu arrangieren. Die Zeitungen berichteten im Vorfeld mit Sonderseiten und –beilagen, ein Aufruf der DDR-Mannschaft sollte alle Sportbegeisterten zur Reise zum Sachsenring motivieren. Im Vorfeld rechneten die Veranstalter mit bis zu 500.000 Besuchern an der Strecke, von Leipzig starteten am Rennsonntag allein 20 Sonderzüge Richtung Hohenstein-Ernstthal. Der 8,7 Kilometer lange Rundkurs, den die Amateure zwanzig Mal zu absolvieren hatten, wurde zur „schwersten WM aller Zeiten“ hochgeschrieben.  

 

Leipziger Volkszeitung


Die anderen Wettkämpfe blieben daneben beinahe Makulatur: Der aufgehende Stern Rudi Altigs (er holte in Leipzig seinen ersten Titel als Profi in der Einzelverfolgung) wurde bemerkt, der Sieg Rik van Loys im Strassenrennen der Profis in wenigen Zeilen abgehandelt.



Favorit und Symbolfigur: „Täve“ Schur

Alles Augenmerk richtete sich im Vorfeld auf einen Fahrer: Würde Gustav Adolf Schur das Kunststück vollbringen und zum dritten Mal in Folge Amateurweltmeister werden? Bei der Friedensfahrt 1960 hatte er zwei Tageserfolge feiern können, die DDR-Meisterschaften Ende Juli zum vierten Mal in Serie gewonnen. Natürlich war Täve der Traumsieger der Veranstalter, schließlich war er nicht nur Friedensfahrt- und damit Volksheld, sondern auch Mitglied der SED und Abgeordneter der Volkskammer der DDR. Sein Sieg würde auch nach innen der SED und der DDR Anerkennung verleihen und den Bürgern des Landes in den Propagandaschlachten des Kalten Krieges Identifikationsmöglichkeiten bieten. Der Druck auf den Schultern Schurs und der Mannschaft dürfte also immens gewesen sein; alles andere als ein Zieleinlauf mit Schur als Sieger wäre ein nicht zu verzeihender Fauxpas erster Güte gewesen.



Der „Große“ und der „Kleine“

Als das Rennen in regnerischem Wetter am 13. August 1960 gestartet wurde, säumten schließlich etwa 150.000 Zuschauer den Streckenrand (die Angaben schwanken je nach Herkunft der Berichterstatter von 100.000 bis 300.000…), um Täves Triumph beizuwohnen.



Bernhard Eckstein
- der "Kleine" -
(Junge Welt)

Der Rundkurs wellte sich am Rande des Erzgebirges durch die Landschaft, die ersten drei Kilometer stiegen stetig steiler werdend an (Badberg), einer kurzen Abfahrt folgte ein giftiger Gegenanstieg, von dessen Gipfel die Strecke zwei Kilometer lang bis 200 Meter vor dem Ziel abfiel. Das Finale bildete ein letzter giftiger Stich zum Ziel.

 

Der Rennverlauf ist mittlerweile ostdeutsche Radsportlegende, kolportiert wird vor allen Dingen das überraschende Ende. Werner Ruttkus und Wolfgang Schoppe haben das Rennen in ihrem Buch „Im Glanz und Schatten des Regenbogens“ nachgezeichnet. Den ersten Angriff des Tages lancierten der Italiener Enzo Cerbini und Bernhard Eckstein. Letzterer war nicht nur Teamkollege von Schur beim SC DHfK Leipzig, sondern auch viermaliger Vizemeister der DDR in Serie hinter Schur. Bei der Friedensfahrt 1960 war er Achter der Gesamtwertung geworden. Ein ausgezeichneter Helfer also, den Schur da voraus geschickt hatte. Klar war jedoch allen: der „Kleine“, wie Eckstein aufgrund seiner Statur genannt wurde, sollte den Boden bereiten. Ernten sollte sein Freund Täve, der „Große“.



Aufholjagd und taktische Meisterstückchen

"In der 14. Runde wird's gefährlich! Acht Fahrer sind davon: drei Italiener, zwei Belgier (Vandenberghen X), und nur Bernhard Eckstein (XX) von uns!"
Junge Welt, 15.8.1960

Die Jäger des Favoriten hofften jedoch auf einen Überraschungscoup: sechs Fahrer setzten den beiden Ausreißern nach, darunter neben dem Italiener Livio Trape auch Willy Vandenberghen aus Belgien. Letzterer durfte keineswegs unterschätzt werden, gehörte er doch im Frühjahr bei der Friedensfahrt zu den nur knapp geschlagenen im Kampf um den Gesamtsieg. Ein starker Sprinter und Zeitfahrer, den man nicht einfach ziehen lassen durfte! Eckstein war nun der einzige aus dem Favoritenteam in der Spitzengruppe, die 3 Runden vor Schluss 1:29 Minuten vor dem Feld mit Schur lag.

 

Die Reaktion des Weltmeisters folgte in der drittletzten Runde: Am Badberg spannte er sich vor das Feld, unterstützt von Egon Adler, dem unglücklichen Verlierer der Friedensfahrt 1960. Das Feld zog sich in die Länge, die ersten Fahrer mussten reißen lassen. Der Vorsprung der Spitzenreiter schmolz auf eine halbe Minute, aber entscheidend absetzen konnte Schur sich nicht.

 

Noch drei Passagen des Badberges blieben zum Angriff, und Schur verschärfte auch bei der nächsten Passage das Tempo. Diesmal gelang die Attacke! Täve jagte allein den Ausreißern nach und verkürzte den Abstand Meter um Meter… Vorn begannen die taktischen Geplänkel, und ein Mann nutzte die Gelegenheit und ergriff die Initiative: Willy Vandenberghen! Bevor Schur in der vorletzten Runde die Ausreißer erreichte, entwischte der Belgier und lag beim Einläuten der letzten Runde 30 Sekunde vor seinen Verfolgern. War das Rennen durch Vandenberghens taktisches Kabinettstück entschieden?



Dramatisches Finale

Bernhard Eckstein
(NZZ, 15.8.1960)

Doch Täve gab nicht auf. Die Reste der Verfolgergruppe nahmen konsterniert die Beine hoch, und für Schur und seinen Helfer Eckstein begann die Jagd auf´s Neue, diesmal nach dem entflohenen Vandenberghen. Im steilen Gegenanstieg vier Kilometer vor Schluss stellten sie den Belgier, und sofort folgte die nächste Attacke: Durch Bernhard Eckstein!!! Vandenberghen zögert und entscheidet sich für Schurs Hinterrad. Alle wussten vor dem Rennen, dass in der DDR-Mannschaft alles einem Sieg Schurs untergeordnet würde. Also brauchte er nur mit ihm nach vorn fahren und im Sprint auf seine Kraft und das Glück vertrauen… Aber Schur fuhr nicht! Seelenruhig bremste er Vandenberghen aus, und als der Belgier bemerkte, dass Schur seinem Helfer Eckstein nicht  nachfahren würde, war es zu spät. Die Weltmeisterschaft war entschieden. Sieben Sekunden Vorsprung rettete der „Kleine“ ins Ziel, und selbst den Sprint um Platz zwei konnte der enttäuschte Vandenberghen nicht mehr für sich entscheiden.

 

Der Jubel im Ziel war grenzenlos.



Sieg des „sozialistischen Kollektivs“

Dieser Rennausgang verbreitete sich wie ein Lauffeuer. „Schur schenkt Eckstein den Titel! Unser Weltmeister verzichtet für seinen Freund auf den Sieg!“ Die Zeitungen der folgenden Tage überschlugen sich in Lobeshymnen – auf den Zweitplatzierten. Zwar wurde der Kampfgeist und der Erfolg des Bernhard Eckstein gewürdigt, aber selbst Nationaltrainer werner Schiffner war sich sicher, „dass er (Eckstein, d.A.) mir nicht böse ist, wenn ich sage, dass der Mann des Rennens Täve Schur war.“

 

Eckstein selbst kann seinen Erfolg in den ersten Minuten kaum fassen. Die Leipziger Volkszeitung berichtete hymnisch: „Mit Tränen in den Augen umarmte er seinen Freund Gustav Adolf Schur. „Ach Gustav, wie soll ich Dir nur danken“, sagte er. Doch er große Stratege dieser Weltmeisterschaft antwortete in seiner Art: „Was heißt hier danken, du bist Weltmeister, komm´, gib mir mal ein Autogramm!“"

 



Überhaupt, die Zeitungen der folgenden Tage überschlugen sich vor Begeisterung über den Doppelerfolg. Statt des „geplanten“ Sieges des sozialistischen Heldenmenschen Schur wurde nun der überlegene Sieg des „sozialistischen Kollektivgeistes“ gefeiert, in dem der Stärkere im Sinne der Gemeinschaft für den Schwächeren auf den eigenen Erfolg verzichtet und in die Helferschaft zurücktritt. Natürlich im Gegensatz zum „kaptialistischen Individualismus“; die Überlegenheit des sozialistischen Gesellschaftssystems wurde direkt aus dem Rennergebnis hergeleitet. Was für Zeiten…



Kratzen am Denkmal

„Schur sorgte auf den Sachsenring dafür, dass Eckstein Weltmeister wurde und nicht ich. Das trage ich ihm nicht nach. Ich habe ihn als einen Rennfahrer mit bewundernswertem sportlichem Geist kennengelernt. Schade, dass nicht alle Rennfahrer in der Welt so ehrlich und so fair kämpfen wie er.“ Willy Vandenberghen 1964

Dabei darf man ruhig ein wenig am Mythos rütteln: Könnte es nicht sein, dass Schur bei zwei Aufholjagden, einmal auf die Spitzengruppe und einmal auf Willy Vandenberghen, einfach zu viele Körner gelassen hatte? Und nun auf Nummer sicher ging, damit Vandenberghen im Sprint nicht der lachende Dritte sein würde? Wie auch immer: Es war die taktisch klügste Entscheidung um den Belgier auszuknocken.

 

Aber egal ob Selbstlosigkeit, Freundschaftsdienst oder einfach nur cleveres Überspielen der eigenen Erschöpfung: Seit diesem Tag war Täve Schur der beliebteste Sportler der DDR. Neun mal wurde er zum „Sportler des Jahres“ gewählt. Das Rennen auf dem Sachsenring fand gar Eingang in die Literatur: In Erik Neutschs Roman „Spur der Steine“ (verfilmt mit Manfred Krug) wird das spannende Rennen ebenso geschildert wie in Uwe Johnsohns „Das dritte Buch über Achim“ (Achim ist das Synonym für Schur). Schließlich wurde das Rennen sogar noch einmal mit den drei Hauptdarstellern „nachgestellt“. Aber nicht zu ehren des Champions, sondern zum 70. Geburtstag von – Gustav Adolf Schur.

 

Der Sieg Bernhard Ecksteins blieb Anekdote, Illustration für die Größe seines Kapitäns. In dessen Schatten leuchtete der Regenbogen auf Ecksteins Trikot nicht. Seine Rolle als wichtigster Nebendarsteller in diesem denkwürdigen Rennen sichert ihm bis heute einen Platz in den Geschichtsbüchern des Radsports. Bernhard Eckstein, der nach seiner Sportlaufbahn als Fotoreporter arbeitete, blieb nicht viel mehr als ein Trikot, das ihn als Weltmeister der Amateure im Straßenradsport des Jahres 1960 auszeichnet: einem wahrlich legendären Rennen.

 





>>> Epilog

 

 

Bildquellen:

Junge Welt, Leipziger Volkszeitung, Neue Zürcher Zeitung - vielen Dank für das Überlassen der Reproduktionen

 

Beitrag von Torsten Reitler, Juni 2005

 

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