09. September 1999: Jan Ullrich ist zurück – erster Sieg nach verkorkster Saison
„WM-Vorbereitung“ – dieses Schlagwort war usus in jenem warmen September 1999 auf der iberischen Halbinsel. Jan Ullrich-Fans runzelten die Stirn, schließlich war die Konzentration in Richtung eines einzigen Rennens wie der Weltmeisterschaft im italienischen Verona Anfang Oktober, bei dem so viele Kleinigkeiten über Sieg oder Niederlage entscheiden, mehr als gewagt.
So schien eine dreiwöchige Rundfahrt wesentlich erfolgsversprechender zu sein, kann man doch in dieser langen Zeitspanne kleinere Unzulänglichkeiten oder gar einen schlechten Tag weitaus besser verkraften und ausgleichen.
Und warum sollte „Ulle“ nicht auch bei der Spanien-Rundfahrt glänzen, war seine Knieverletzung nach dem Sturz bei der Deutschland-Tour, der ihm die Tour de France-Teilnahme kostete, wieder vollständig ausgeheilt und das leidige Übergewicht, welches ihn noch im Frühsommer behinderte, kein Thema mehr.
Ullrich und insbesondere sein sportlicher Leiter Rudy Pevenage waren in diesen Tagen nahezu unschlagbar in ihrer Lieblingsdisziplin Understatement: „Jan kann diese Vuelta nicht gewinnen“, „ihm fehle die Rennpraxis“, „wir nutzen die Vuelta als WM-Vorbereitung“, ...
Solcherlei Floskeln in den ohnehin nur mäßig aussagekräftigen Statements hörte man Tag für Tag – selbst nach jener grandiosen Rückkehr des gebürtigen Rostockers am 09. September des Jahres 1999 in Ciudad Rodrigo…
Im fünften Jahr in Folge begann die „Vuelta a Espana“ nicht zu ihrem traditionellen Termin im April, sondern Anfang September. Nachdem Mitte der 90er Jahre viele Kritiker meinten, dass das Rennen durch diese Verlegung in den Spätsommer noch mehr abgewertet würde, belehrten die Rennfahrer jene Stimmen Jahr für Jahr aufs neue eines besseren. Allen in Erinnerung war noch die Austragung im Vorjahr, als es in den letzten vier Tagen zu einem dreifachen Wechsel der Gesamtführung kam, und ein gewisser Lance Armstrong ein grandioses Comeback nach zweijähriger Abstinenz vom Profi-Radsport feiern konnte…
Zunächst jedoch ein kurzes Resümee des Vuelta-Starts in Murcia: Allein ein Blick auf die Startliste und die vielen prominenten Teilnehmer darauf versprachen ein hochklassiges Rennen, denn mit Laurent Jalabert, Alex Zülle, Melcior Mauri und Abraham Olano waren nicht weniger als vier Vuelta-Gewinner vergangener Jahre am Start. Dazu gesellte sich die Horde herausragender spanischer Kletterer um Fernando Escartin, José Maria Jimenez und Roberto Heras, aber auch ausländische Stars wie Weltmeister Oscar Camenzind (Schweiz), der Giro-Sieger von 1996 Pavel Tonkov (Russland), Belgiens Jahrhundert-Talent und Lüttich-Bastogne-Lüttich-Sieger Frank Vandenbroucke und eben Jan Ullrich reichten sich die Hände. Die größten Chancen auf den Gesamtsieg in Spanien wurden Vorjahressieger Abraham Olano und dem Schweizer Tour-Zweiten Alex Zülle (Vuelta-Sieger 1996 und 1997) eingeräumt.
Im Prolog von Murcia allerdings schlug ein bis dato unbeschriebenes Blatt den Favoriten ein Schnippchen: Der 25-jährige Igor Gonzalez Galdeano aus der Vitalicio Seguros-Mannschaft düpierte die Favoriten und landete schlussendlich mit einer Sekunde Vorsprung auf Olano ganz unverhofft auf dem Siegertreppchen. Damit sicherte er sich auch selbstredend das Gold-Trikot des Spitzenreiters in der Gesamtwertung.
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Bevor es bereits am sechsten Tag zum ersten Mal in die Berge ging, durften sich zunächst die Sprinter austoben. Besonders hervor tat sich dabei der Kölner Marcel Wüst, der sich dank der Hilfe von Zeitbonifikationen im Ziel und unterwegs auf der Strecke sogar das Goldene Trikot überstreifen konnte.
Die Bergetappe von Béjar nach Ciudad Rodrigo über 154 Kilometern gehörte wahrlich nicht zu den schwierigsten, die bei dieser Rundfahrt zu bezwingen sein sollten, schließlich wartete am darauf folgenden Wochenende zum ersten Mal der gefürchtete Alto de Angliru mit Steigungsprozenten von bis zu 23% auf die Rennfahrer. Dennoch sorgten ein Anstieg der ersten Kategorie (Alto de El Portillo), zwei der zweiten (Alto de Mogarraz und Alto de la Pena de Francia) und einer der dritten (Alto de Monsagro) für große Nervosität unter den Favoriten, auch wenn der letzte Anstieg 25 Kilometer vor dem Ziel zu bewältigen war, womit etwaige Schwächen gegebenenfalls noch in der Abfahrt hätten kaschiert werden können…
Die Schwäche eines Favoriten war jedoch so akut, dass nicht einmal diese lange Abfahrt hinunter ins Ziel irgend etwas zu retten imstande war: Alex Zülle war dem Überdruck, nach seiner großartigen Tour de France die Vuelta „im Vorbeigehen“ in Richtung WM gewinnen zu müssen, nicht gewachsen. Am zweiten Pass des Tages, dem 1240 Meter hohen Portillo, musste Zülle wenige Kilometer vor dem Überfahrt reißen lassen. Zwei Teamkollegen seiner Banesto-Mannschaft, Aitor Osa und Jon Odriozola, warteten und mussten mit ansehen, wie der große Favorit strauchelte. Der Abstand zur Führungsgruppe betrug nur anderthalb Minuten, doch Zülles Pech bestand darin, dass Titelverteidiger Abraham Olano seine ONCE-Teamkollegen reihenweise in Attacken am Portillo schickte, so dass er nach Bewältigung dieses Passes noch fünf(!) Teamkollegen an seiner Seite hatte, die auf der Abfahrt im Wissen ob Zülles Schwäche soviel Tempo bolzten, dass der Rückstand des Schweizers immer weiter anstieg. Ein weiteres Dilemma aus Zülles Sicht war sein Banesto-Teamkollege José Maria Jimenez, der ebenfalls ambitioniert in diese Spanien-Rundfahrt hineinging und nicht annähernd einen Gedanken daran verschwendete, seinen favorisierten Teamkollegen zu unterstützen, geschweige denn auf ihn zu warten. Stattdessen spannte er mit dem Italiener Leonardo Piepoli einen weiteren Teamkollegen für seine Zwecke ein. Dass Jimenez nicht gerade als der ruhmreichste „Teamplayer“ bekannt war, erboste bereits die Ehefrau Abraham Olanos, deren Gatte im vergangenen Jahr noch bei Banesto unter Vertrag stand und wahrlich keinen leichten Stand gegen die ständigen Attacken des Kletterkönigs aus „El Barraco“ bei Avíla hatte. Senora Olano beschwerte sich im Vorjahr wehement sowohl bei Jimenez selbst, als auch bei den Banesto-Teamchefs Echavarri und Unzue, dass Jimenez ihrem Mann den Vuelta-Sieg auf hinterhältige Art und Weise „klauen“ würde…
Doch nicht nur Olanos ONCE-Equipe, auch die beiden anderen großen spanischen Mannschaften, Kelme-Costa Blanca und Vitalicio Seguros, sahen in Zülles Problemen die eigenen Chancen wachsen, so dass ein Pakt mit ONCE geschlossen wurde, um den Schweizer immer weiter zu distanzieren. Speziell an den Steigungen arbeiteten die „Bergziegen“ von Kelme in Person von José Manuel Uría und José Luis Rubiera für ihre Kapitäne Heras und Escartin, während sich Zülle mit schwerem Tritt und schmerzverzerrtem Gesicht den 1500m hohen Francia hochschleppte…
Jan Ullrich hingegen agierte unauffällig und hielt sich aus dem spanischen Geplänkel heraus. Dabei hatte er nicht eine Sekunde lang Mühe, das scharfe Tempo am Berg zu halten. Mit gewohnt ruhigem Oberkörper spulte er sein Pensum ab. Viel erinnerte an den Ullrich aus vergangenen Jahren, vieles, was man seit seinem zweiten Platz bei der Tour de France im Vorjahr vermisst hatte und was in dieser Saison noch nicht annähernd und zu keiner Zeit zu bewundern war…
Die Spitzengruppe bestand auf dem Gipfel des letzten Anstieges aus 23 Fahrern. Trotz der von ONCE und Vitalicio initiierten schnellen Fahrt hinunter in Richtung Ciudad Rodrigo glaubte niemand so recht an einen Sprint der 23, geschweige denn an einen „Sprinter“ Jan Ullrich, der diese scheinbar nicht vorhandenen Qualitäten zuletzt vor sechs Jahren bei seinem Sieg im Weltmeisterschaftsrennen der Amateure offen legte – damals mit Erfolg, doch bestand die Führungsgruppe in jenem Jahr 1993 in Oslo gerade mal aus einer Handvoll Fahrer…
Wenige Kilometer vor dem Ziel war es dann um die zweckgebundene Eintracht von ONCE und Vitalicio geschehen: Spaniens „ewiges Talent“ Santiago Blanco (Vitalicio) attackierte und fuhr recht schnell einen größeren Vorsprung von mehreren hundert Metern heraus. Während Jan Ullrich nicht reagierte und sich stattdessen Position um Position im Feld der restlichen 22 nach vorne schob, entschied sich Abraham Olano persönlich dafür, am Sprint um den Etappensieg teilzunehmen, denn etwaige Zeitgutschriften hätten ihm das Führungstrikot vor dem ebenfalls in der Gruppe befindlichen Igor Gonzalez Galdeano erbracht. So also spannte sich das ONCE-Team noch einmal vor den Pulk und schaffte es tatsächlich, Blanco wenige hundert Meter vor dem Ziel einzuholen. Nun stach Jan Ullrich nach vorne: 400 Meter vor dem Ziel war er bereits im Wind, und Abraham Olano sowie Frank Vandenbroucke, die sichtlich vom Antritt Ullrichs überrascht schienen, klemmten sich dahinter. Olano kam auf, zog aus Ullrichs Windschatten heraus und erreichte die gleiche Höhe des Rostockers. Der Etappensieg schien verloren, doch Ullrich hatte das letzte Quentchen tatsächlich noch zuzusetzen. Mit einer halben Radlänge Vorsprung auf Olano siegte Ullrich in Ciudad Rodrigo und fuhr seinen ersten Sieg seit dem zweiten großen Zeitfahren bei der Tour de France in Le Creusot vor fast 14 Monaten ein.
Die „WM-Vorbereitung“ wurde zweieinhalb Wochen später durch den Gesamtsieg Ullrichs gekrönt. Das WM-Rennen selbst beendete Ullrich als Achter…
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