Diesem glücklichen Umstand, nicht vollends für Helferdienste geopfert werden zu müssen, verdankt Poli wohl seine Sternstunde: An jenem brütend heißen 17. Juli 1994 stand bereits die 15. Etappe der Frankreich-Rundfahrt auf dem Programm. Das Peloton hatte bereits zwei schwere Bergetappen in den Pyrenäen in den Knochen und vier Etappen in den Alpen sollten in den folgenden Tagen noch auf dem Programm stehen. Als ideale Gelegenheit für Ausreißer hätte man daher diesen 15. Tagesabschnitt von Montpellier ins malerische Provence-Städtchen Carpentras über 231 lange Kilometer interpretieren können, wenn, ja wenn da nicht der legendäre Berg im Weg gestanden hätte, dem der Brite Tom Simpson 1967 zum Opfer gefallen ist: Der Mont Ventoux, 1912 Meter hoher Gigant der Provence, um den sich Mythen ranken und mit dem vielen Legenden verbunden sind.
„Der Ventoux ist Gott des Bösen, dem Opfer gebracht werden müssen“, schrieb Roland Barthes, französischer Philosoph und Radsport-Fan.
21 Kilometer heißer Asphalt bis zum windigen Gipfel des „Teufelsberges“: Eros Poli schien sich an diesem Tage einiges vorgenommen zu haben. In der Gesamtwertung (natürlich) weit zurück, wurde sein Angriffsversuch nach 60 km des Tagespensums nicht weiter beachtet. Begleitung in Form von anderen Mitausreißern erfuhr er keine – zu aussichtslos erschien das Unterfangen. Zudem schien das Peloton auch nicht gewillt zu sein, bereits vor dem Ventoux irgendwelche Körner sinnlos zu verschleudern. Dementsprechend „bummelte“ das Feld, während Poli Minute um Minute herausfahren konnte. Der Anstieg zum Ventoux begann in Bédoin, ca. 60 Kilometer vor dem Ziel in Carpentras, und das Feld erreichte den Fuß des Berges sage und schreibe 23:45 Minuten später als Poli, der in diesen knapp 24 Minuten bereits einen harten und einsamen Kampf gegen die Hitze, die zehn-prozentige Steigung hinauf bis zum Chalet Reynard, und vor allen Dingen gegen sich selbst führte. Die fanatischen Zuschauer schrien Poli hinauf – jeder Meter schmerzte in den Beinen, jedes Gramm seiner insgesamt 85 000 schien als immense und unüberwindbare Bremskraft zu wirken. Mit schwerem Tritt und einem wankenden Oberkörper, der einem Schiff in höchster Seenot glich, quälte sich der Italiener den „Teufelsberg“ hinauf. Währenddessen attackierte der Italiener Marco Pantani als Erstes aus dem Peloton und setzte sich ab. Dahinter versuchten es mit Richard Virenque (Frankreich) und Pjotr Ugrumov (Russland) die nächsten Fahrer – der Vorsprung Polis schmolz wie Eis in französischer Sonne: Pro Kilometer verlor er im Schlussteil des Anstieges hinter dem Chalet Reynard, wo ihn die berüchtigte karge Mondlandschaft in Form der Stein- und Geröllwüste des Ventoux nicht mehr von der Seite weichen wollte, jeweils ca. eine Minute pro Kilometer, als der Tour-Führende Miguel Indurain hinter Chalet Reynard das Tempo verschärfte und das Feld im Alleingang sprengte. Virenque und Ugrumov wurden rasch eingeholt und nur noch Armand de las Cuevas, Luc Leblanc, Pascal Lino (alle Frankreich), der Italiener Roberto Conti und Virenque konnten das Tempo des dreifachen Tour-Siegers mitgehen. Poli kämpfte sich derweil Meter um Meter auf glühendem Asphalt den Gipfel des Ventoux hinauf – der riesige Vorsprung, den er sich auf der Fläche herausfuhr, sollte ausreichen. Auf dem höchsten Punkt des Berges waren es noch 4:35 Minuten Vorsprung auf Pantani, sowie 6:03 Minuten auf die Indurain-Gruppe. Nun hätte nur noch ein Sturz oder Defekt Polis Triumphfahrt abrupt ein Ende setzen können. Nachdem er jedoch den Kampf mit sich und dem Berg gewonnen hatte, war das schlimmste überstanden und die restlichen Kilometer glichen einer Triumphfahrt. Beflügelt vom greifbar nahen Etappensieg „flog“ er die Kehren des Ventoux hinab, dem Ziel in Carpentras entgegen. Unter Tränen feierte er den Etappensieg und wurde infolge dieser fantastischen Leistung auch zum angriffslustigsten Fahrer der Tour de France 1994 gewählt.
Auch diese Rundfahrt konnte Poli letztendlich beenden. Sein grandioser Etappen-Sieg hatte ihm in der Gesamtwertung jedoch wenig gebracht: Im Schlussklassement waren von 117 Fahrern nur die beiden Niederländer Rob Mulders und John Talen hinter ihm. Für diese Tatsache hatte Poli gerüchteweise wohl nur ein müdes Lächeln übrig…
„Es war der größte Tag in meinem Leben. Es war ein Traum und ich konnte ihn mir erfüllen…“, sollte Poli später sagen.
>>> youtube: Tour de France 1994 Stage 15 Mont Ventoux