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20. September 1995: Der Tag des Bert Dietz – die Geste des Laurent Jalabert
Der Leipziger Bert Dietz befand sich 1995 in seinem erst zweiten Profijahr. Trotz jahrelanger Erfahrungen im Amateur-Bereich mit großen Erfolgen, Gesamtsiege u.a. bei Hessen-, Niedersachsen-, Thüringen- oder Rheinland-Pfalz-Rundfahrt, fiel auch ihm – wie so vielen anderen erfolgreichen Amateur-Fahrern – der Sprung ins Profilager schwer.
Für das Jahr 1994 erhielt er einen Vertrag beim Team Telekom, dem er bis zum Ende der Saison 1998 treu blieb.
Ein Profisieg war ihm bis September 1995 nicht vergönnt – wie jeder „Frischling“ musste auch er zunächst Helferdienste für seine Mannschaftskapitäne leisten, in diesem Falle Olaf Ludwig und Udo Bölts. Dabei war Dietz maßgeblich daran beteiligt, dass Ludwig im Jahr 1994 einen herausragenden dritten Platz bei Paris-Roubaix belegen konnte.
Für das Jahr 1995 rechnete Dietz durchaus mit einer Nominierung für die Tour de France-Mannschaft von Telekom. Eine unrühmliche Schlammschlacht zwischen der Tour-Societé um Jean-Marie Leblanc und den Telekom-Verantwortlichen um die erstmalige Nichtnominierung des Teams für die Tour – die letztlich doch noch widerrufen wurde, so dass zumindest sechs Telekom-Fahrer im Verbund mit drei Fahrer des ZG-Mobili-Rennstalls in einer Art „Mix-Team“ in Frankreich antreten konnten – kostete Dietz die sicher geglaubte erste Tour-Teilnahme.
So sollte die Spanien-Rundfahrt 1995 die erste große Landesrundfahrt in der Karriere von Bert Dietz werden. Kleine Anekdote am Rande: Nebenbei war es auch die erste „Grand Tour“ von Jan Ullrich …
Im Gegensatz zum damals erst 21-jährigen Rostocker konnte Dietz diese Rundfahrt nach drei schweren Wochen beenden – sogar auf einem respektablen 32. Gesamtrang, den er vor allem seinem Parforce-Ritt an jenem 20. September 1995 zu verdanken hat, als es zum Ende der 238 Kilometer langen 12. Etappe mit Startort Marbella den 29 Kilometer langen Anstieg hinauf in die berühmte, 2300 Meter hoch gelegene Skistation Sierra Nevada zu bewältigen galt. Jener Ort war zu Beginn des Jahres durch eine Kuriosität der besonderen Art bekannt geworden, da die alpinen Ski-Weltmeisterschaften wegen Schneemangels komplett abgesagt werden mussten und ins Jahr 1996 verlegt wurden.
(c) Prinzin Bert Dietz, Etappensieger bei der Vuelta 1995 |
Elf Etappen war diese Spanien-Rundfahrt alt, als es in die Sierra Nevada hinauf ging, und ein Zwischenfazit bis zu jenem Zeitpunkt ließ gutes verlauten: Das Ziel der UCI, die Vuelta durch die Verlegung in den September aufzuwerten, schien sich auszuzahlen, denn die Teilnehmerliste der Vuelta war spektakulär wie schon lange nicht mehr. Während sich in den Vorjahren hauptsächlich einheimische Teams um den Gesamtsieg balgten, gaben sich diesmal viele ausländische Spitzenteams samt ihren Top-Stars die Klinke in die Hand: Kletterkünstler Marco Pantani war ebenso am Start wie das bärenstarke Gewiss-Doppel Bjarne Riis, immerhin Tour-Dritter 1995, und Pjotr Ugrumov. Für Festina ging der französische Bergkönig Richard Virenque ins Rennen. Dazu gesellte sich das „Who is who“ der spanischen Teams um Laurent Jalabert und Alex Zülle (beide ONCE) sowie eine starke Banesto- und Kelme-Fraktion. Nur Rekord-Tour-Sieger Miguel Indurain, welcher die Vuelta wie in jedem Jahr mied, und Vorjahressieger Tony Rominger fehlten von den „großen Namen“…
Die erhoffte Spannung im Kampf um den Gesamtsieg schien dennoch nicht so richtig aufzukommen – zu dominant war der vom Sprinter zum Rundfahrer gewandelte Franzose Laurent Jalabert, der sowohl auf den Flach-, als auch auf den Bergetappen nahezu unschlagbar schien. Er gewann bis dato drei Teilstücke - in Avila, in Orense sowie am Alto de Naranco. Sein Vorsprung auf den Zweitplatzierten Abraham Olano betrug vor dem Start in Marbella sage und schreibe 5:12 Minuten.
Die Taktik des Telekom-Teams bei dieser Rundfahrt bestand darin, möglichst oft in Ausreißergruppen dabei zu sein, um so gegebenenfalls den richtigen Moment für einen unverhofften Etappensieg zu erwischen. Zwar hatte man mit Erik Zabel den Shooting-Star im Massensprint mit aufgeboten, doch der zweifache Tour-Etappensieger schien nach drei Wochen Frankreich-Rundfahrt müde und ausgelaugt und konnte demnach nicht viel gegen die Sprintkonkurrenz um Nicola Minali und Jeroen Blijlevens ausrichten.
So war es vor allem Bert Dietz, der probierte, die Kastanien für das Team aus dem Feuer zu holen. Bereits auf der zweiten Etappe von San Asensio nach Santander verbuchte der Leipziger einen ausgezeichneten zweiten Etappenrang – nur der Italiener Gianluca Pianegonda war an diesem Tag 13 Sekunden schneller …
Einen erneuten Versuch wagte Dietz an jenem Tag, der „seiner“ werden sollte … nach 30 Kilometern setzte er sich gemeinsam mit dem Belgier Bart Leysen aus dem Feld ab. Zusammen fuhren beide einen maximalen Vorsprung von vier Minuten heraus – nicht viel angesichts der Tatsache, dass es noch die schwere, nicht enden wollende Schlusssteigung zur Sierra Nevada hinaufgehen sollte. Zu allem Überfluss wurde das Duo auch noch gesprengt: Leysen konnte nicht lange mit Dietz mithalten.
Doch der vermeintlich Nachteil schien sich zum Vorteil zu wenden: Solist Dietz wurde offensichtlich nicht ernst genommen, plötzlich stieg sein Vorsprung rapide auf zehn Minuten an. Lange konnte er diesen Puffer jedoch nicht sein eigen nennen, denn als das Feld, angeführt von Jalaberts ONCE-Mannschaft, den Beginn des Anstiegs erreichte, waren es „nur“ noch fünf Minuten … Fünf wertvolle Minuten jedoch, denn Dietz konnte diesen Abstand über viele Kilometer des Anstiegs zementieren. Im Peloton gab es weder ernstzunehmende Angriffsversuche auf Jalabert, noch ein hartes Tempobolzen der ONCE-Equipe, so dass Kilometer um Kilometer verstrich, ohne dass sich entscheidendes tat.
„Jalabert hat mir gleich signalisiert, er werde mir den Sieg überlassen nach dem langen Solo-Ritt. Er ist aber trotzdem nach vorne gegangen, und hat Tempo gemacht.“ |
Nach und nach schwanden die Kräfte beim Deutschen dann allerdings immer deutlicher, so dass es letztenendes nur noch eine Frage der Zeit schien, bis die Top-Fahrer zu Dietz aufschließen sollten … Ein Kilometer war noch zu absolvieren, sein Sieg immer wahrscheinlicher, doch plötzlich lancierte Jalabert eine Attacke. Scheinbar hatte ihn die „Siegessucht“ gepackt und eine erneute Demonstration der Stärke sollte den Gegnern wohl den sprichwörtlichen „Rest geben“. Doch Jalabert demonstrierte nicht nur Stärke, sondern auch große Anerkennung und sportliche Größe: Wenige hundert Meter vor dem Zielstrich holte er Dietz ein – alle glaubten, er marschiere dem verzweifelt kämpfenden Deutschen nun auf und davon, doch tatsächlich spannte er sich vor ihn und gab diesem mit einem kurzen Blick zurück zu verstehen, dass er ihm, dem Mann des Tages, den Sieg überlassen werde … Die Tempoarbeit war zudem arg vonnöten, denn von hinten nahten bereits Olano, Johan Bruyneel und Michele Bartoli.
Der knappe Vorsprung sollte jedoch reichen: Jalabert nahm den Druck von den Pedalen, Dietz überholte ihn und reckte erschöpft, aber voller Enthusiasmus im Wissen des Sieges die Arme in den Himmel …
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