Álvaro Mejía
Die „Könige der Berge“, wie die kolumbianischen Radprofis in den 80er Jahren genannt wurden, entwickelten sich in jener Zeit zu einer echten sportlichen Gefahr für die etablierten Rundfahrer aus Italien, Frankreich oder Spanien. Während Lucio Herrera und Fabio Parra das Etablissement gewaltig aufmischten, wuchs daheim in den Weiten der Anden eine neue hungrige Rennfahrergeneration heran, die frohlockte. Am 10. Februar 1988 endete die fünfte Etappe der Kolumbien-Rundfahrt für Nachwuchsfahrer: Auf den dritten Gesamtrang verbesserte sich ein gewisser Oliverio Rincón, auf den zweiten Platz sprang Hernán Buenahora und die Gesamtführung verteidigte abermals der 21-jährige Álvaro Mejía. All diese Fahrer belegten auch am Ende der besagten Rundfahrt die ersten drei Plätze, allerdings tauschten Rincón und Buenahora nach dem abschließenden Zeitfahren, welches Mejía mit über einer Minute Vorsprung gewann, die Positionen.
Das Zeitfahren: Aufgrund dieser Disziplin blieb den kolumbianischen Bergziegen der ganz große Wurf zumeist verwehrt. Grazil und leichtfüßig schraubten sie sich immer wieder die schwersten Bergpässe Europas hinauf, doch in der Ebene bedeuteten Wind und Tempohärte zumeist das Ende aller Euphorien. Nicht so bei Álvaro Mejía, der als einer der komplettesten kolumbianischen Rennfahrer aller Zeiten galt. So holte er im Einzelzeitfahren sowohl im Jahre 1988, als auch 1989 verlorenen Boden bei der bedeutsamen kolumbianischen Clasico RCN auf und sicherte sich in beiden Jahren den Gesamtsieg.
Mejía war nun sinnbildlich reif für Europa. Das Postóbon-Team galt im internen kolumbianischen Vergleich mit der etablierten Mannschaft Café de Colombia um Lucio Herrera zwar als minderbemittelt, was Budget, Struktur und Fahrerbesetzung anging, doch Mejía nutzte es als Sprungbrett für seine eigene Entwicklung, die dadurch nicht im Schatten eines großen Landsmannes wie Herrera oder Parra untergraben wurde. Bei der Dauphiné Libéré im Jahre 1990 machte er zum ersten Male auf europäischer Bühne auf sich aufmerksam, als er auf den schweren Bergetappen der Savoyer Alpen ausgezeichnet mithielt und geradezu sensationell das abschließende Einzelzeitfahren in Annecy gewann. Am Ende belegte er hinter den beiden Kletterern Robert Millar und Thierry Claveyrolat Gesamtrang drei.
Zahlreicher Abwerbungsversuche größerer Teams zum Trotz blieb Mejía seiner kleinen, aber feinen Postóbon-Mannschaft treu – mit Erfolg: Er gewann 1991 die Galizien-Rundfahrt vor Pjotr Ugrumov und fuhr eine fantastische Weltmeisterschaft in Stuttgart, wo ihm ausgerechnet seine einzige offensichtliche Schwäche eine Medaille kostete. Im Sprint einer who-is-who-Vierergruppe unterlag er Gianni Bugno, Steven Rooks und Miguel Indurain denkbar knapp.
© cyclingphotos.co.uk Álvaro Mejía im Schlepptau von Miguel Indurain beim Aufstieg nach Isola 2000 während der Tour de France 1993 |
Die politische und wirtschaftliche Instabilität Anfang der 90er Jahre zwang die Sponsoren nach und nach, ihr Engagement zu reduzieren. Nachdem bereits Café de Colombia seine Aktivitäten einstellte, beendete auch Postóbon-Ryalco 1992 das Radsport-Sponsoring. Mejía musste sich ein neues Team suchen, was ihn jedoch angesichts seines Talents und seiner Erfolge vor keine großen Schwierigkeiten stellte. Zur Saison 1993 heuerte er bei Jim Ochowicz an, der die amerikanische Motorola-Mannschaft führte. Der Amerikaner stellte eine gute Mischung aus erfahrenen Kräften wie Phil Anderson, Andrew Hampsten oder Steve Bauer und jungen aufstrebenden Fahrern wie Lance Armstrong und eben Mejía zusammen. Dennoch blieben zunächst Zweifel, ob der introvertierte Kolumbianer mit der neuen Umgebung umzugehen vermochte. Nach seinem Gesamtsieg in der Katalonien-Rundfahrt und spätestens während der Tour de France 1993 löste sich diese Skepsis in Luft auf: Mejía konnte die Erwartungen nicht nur erfüllen, er übertraf sie bei weitem, fuhr er doch gemeinsam mit Miguel Indurain und Tony Rominger über den Galibier und ließ sich weder hinauf nach Isola 2000, noch in Andorra-Ordino abhängen. Nebenbei gewann in Ordino mit Oliverio Rincón ein Landsmann und alter Weggefährte. Nur hinauf nach St. Lary Soulan musste Mejía klein beigeben. Die Minute, die er dort auf Zenon Jaskula und Rominger verlor, kostete ihm letztendlich den Podestplatz in Paris, denn obwohl er vor dem abschließenden Zeitfahren von Bretigny nach Monthléry noch vor seinen beiden Kontrahenten auf Rang zwei hinter Indurain lag, fiel er am vorletzten Tage buchstäblich noch vom Stockerl herunter. Angelastet wurde Mejía vor allen Dingen seine mangelnde Angriffsbereitschaft. Er begnügte sich zumeist damit, am Hinterrad seiner schärfsten Konkurrenten zu bleiben. Selbstbewusstsein und mentale Stärke als Fundament für Attacken waren bei Mejía unterentwickelt. Offenbar schlummerte sein enormes Potential trotz des vierten Rangs in der Tour im Verborgenen und er selbst war nicht in der Lage, es in den entscheidenden Momenten abzurufen.
Im Nachhinein glaubten viele Radsport-Experten deshalb auch zu meinen, dass speziell der Fall vom Podest am vorletzten Tag der Tour 93 den Karriereknick des Álvaro Mejía verursachte, denn trotz seines jungen Alters von 26 ging es ab 1993 stetig bergab. Zwar gab er im Vorfeld der Tour de France 1994 mit dem Gesamtsieg bei der kleinen, aber durchaus bedeutsamen Präparationsrundfahrt „Route du Sud“ ein Markenzeichen ab, welches die Experten unken ließ, dass der Kolumbianer rechtzeitig zur Tour wieder in Form kommen würde, doch die Tour selbst wurde zu einer einzigen Enttäuschung: Rang 31 mit über einer Stunde Rückstand auf Seriensieger Indurain, mit dem er vor Jahresfrist jeden noch so hohen Gipfel gemeinsam erstürmte, setzten den Abwärtstrend fort.
Während der Spanien-Rundfahrt 1995 stürzte Mejía schwer, brach sich das Schlüsselbein und musste die wohl schwerste Niederlage seiner Karriere verkraften: Der Verzicht auf die Straßen-Weltmeisterschaft im heimischen Kolumbien.
„I could never understand it.“ Mejía-Teamkollege Lance Armstrong auf die Tatsache, dass Mejía selbst bei größter Hitze Handschuhe trug. |
Zur Saison 1996 reduzierte Motorola das Budget kräftig. Das Team wurde auf 17 Fahrer verkleinert, weshalb für Alvaro Mejía kein Platz mehr war. Er trainierte weiter fleißig, bekam jedoch aufgrund seiner schwachen 95er Saison keinen Vertrag mehr. Akribisch arbeitete er im Jahre 1996 auf ein Comeback hin, doch die große Radsport-Bühne ließ den Vorhang für Mejía fallen. Im kleinen kolumbianischen „Petroleo de Colombia“ erhielt er für 1997 seinen letzten Vertrag – mit 30 Jahren. Er fuhr nur noch gelegentlich Rennen in Südamerika – und dies noch nicht einmal erfolgreich. Zu Beginn des Jahres 1998 beendete Álvaro Mejía seine Radsportkarriere.
Lance Armstrong, von 1993 bis 1995 Teamkollege des Kolumbianers, sprach davon, dass „Álvaro womöglich eines der größten Naturtalente gewesen sei“, die er je gesehen habe. 1993 habe er [Mejía] gemeinsam mit dem TdF-Vierten Andrew Hampsten in den Bergen Italiens trainiert. Hampsten, immerhin ehemaliger Sieger des Giro d’Italia, sah keinen Stich gegen den drahtigen Südamerikaner. Eine amüsante Anekdote zum Abschluss: „Er trug immer eine Menge Kleidung. Wurde die Hitze auch noch so unerträglich – er [Mejía] trug stets Handschuhe - „I could never understand it.“, so Armstrong.
von Sven unter Zuhilfenahme folgender Quelle:
Kings of the Mountains, Matt Rendell, 2002
1987
3. Platz Clasico RCN
1988
Sieger Clasico RCN
1989
Sieger Clasico RCN
3. Platz Trofeo Masferrer
5. Platz Katalanische Woche
12. Platz Katalonien-Rundfahrt
1990
2. Platz Clasico RCN
3. Platz Critérium du Dauphiné Libéré + Etappensieg
1991
Sieger Galizien-Rundfahrt + Etappensieg
2. Platz Gran Premio del Cafe
4. Platz UCI-Weltmeisterschaft Straßenrennen, Stuttgart/GER
10. Platz Critérium du Dauphiné Libéré
14. Platz Tour de l’Oise
19. Platz Tour de France
1992
Sieger Murcia-Rundfahrt
9. Platz Critérium du Dauphiné Libéré
15. Platz Tour du Limousin
1993
Sieger Katalonien-Rundfahrt
3. Platz Galizien-Rundfahrt
3. Platz Einzelzeitfahren Escalada a Montjuich
4. Platz Tour de France
9. Platz Giro del Lazio
12. Platz Giro dell’Emilia
1994
Sieger Route du Sud
6. Platz Murcia-Rundfahrt
8. Platz Katalanische Woche
11. Platz Tour de l’Oise
1995
8. Platz Critérium du Dauphiné Libéré
11. Platz Classique des Alpes
16. Platz Tour de France
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