Text: Niko
11.7.2000, mein Vater, meine Schwester und ich machen uns auf zu unserem Sommerurlaub 2000, Ziel die drei Alpenetappen der Tour de France. Auf der Fahrt bis zum Grenzübertritt in der Nähe von Freiburg herrscht draussen tolles Wetter, genau der richtige Start für unser Vorhaben, doch mit der Einfahrt nach Frankreich verdunkelt sich der Himmel schlagartig. Ab den Alpen beginnt es zu regnen, aber wir entschliessen uns dennoch zum Verbleib in einer kleinen Jugendherberge in Annency, unser eigentliches Ziel war ein Campingplatz. Beim Abendessen dann heisse Diskussionen. Jetzt doch zum Mittelmeer oder an den Atlantik wie sonst jedes Jahr, ich sehe meine Träume von meiner ersten Tour de France vor Ort vor meinen Augen zerplatzen.
Dann jedoch die rettende Idee: Wir entschliessen uns am nächsten Tag zum Mont Ventoux in die Provence zu fahren, um dort am 13.7. die 12. Etappe der Tour de France anzuschauen! Also alles wieder ins Auto gepackt und nach fünf Stunden Fahrt in einem kleinen Ort namens Malaucene unser Zelt aufgeschlagen!
Es ist keine lange Nacht, denn nachdem erstmal alles steht und alles eingekauft ist, geht es an die Landkarte um zu gucken wo die Fahrer hochfahren und wo wir uns hinstellen werden. Dabei erkennen wir aber, dass die Fahrer den Berg von der anderen Seite erklimmen werden, so dass wir mit unseren normalen Stadträdern den Gipfel überfahren müssen um sie überhaupt zu sehen. Wir nehmen uns das Ziel vor, am nächsten Tag schon um 10 Uhr aufzubrechen, um rechtzeitig oben anzukommen.
13.7.2000, wir drei zwar sportlichen, aber nicht gerade Bergetappen erprobten Leute macheen uns also um 10 Uhr auf, um den vielleicht schwersten Berg der Tour zu besiegen. 1900 Meter Höhenunterschied auf 21 Kilometern, eine echte Herausforderung. Schon um diese Uhrzeit sind es in der Sonne locker 28 Grad und der Blick nach oben zum Gipfel verheißt nichts gutes! Im Ort wimmelt es nur so von radsportbegeissterten Fans, die alle hinauf wollen um einmal den Protagonisten wie Armstrong oder Ullrich in das schmerzverzerrte Gesicht zu gucken.
So beginnen wir also unseren schweren Weg nach oben obwohl der erste Kilometer nur ganz leicht mit einer Steigung von vielleicht 3 Prozent hoch ging. Doch dann geht es los. Es folgt die erste sogenannte Rampe und schwupps sind es plötzlich acht Prozent und mehr. Mein Vater setzt sich an die Spitze und gibt ein Tempo vor, das alle auf den ersten 4-5 Kilometern sehr gut mitgehen können. Noch ist die Strasse von Bäumen gesäumt, die Schatten auf den schmalen Weg zwischen Autostrasse und Abgrund werfen.
Die erste Pause wird gemacht, Gatorade getrunken und Bananen gegessen. Meiner Schwester und mir ist die Anstrengung schon im Gesicht anzusehen, mein Vater sieht noch sehr relaxt aus.
Weiter geht es mit Steigungen zwischen 10 und 12 Prozent, der Anstieg wird immer brutaler, die Durchschnittsgeschwindigkeit liegt vielleicht noch bei 5 Km/h und das Kettenblatt wurde auch schon längst auf die niedrigste Stufe zurückgestellt. Kilometer sechs und sieben verlaufen weiterhin ohne Schwierigkeiten, doch die Bäume haben der kahlen Landschaft langsam das Feld überlassen, und die Sonne brennt unbarmherzig auf den Asphalt.
Das Blut im Kopf beginnt zu pochen, der Tritt wird immer schwerer, und immer noch ist die Hälfte der Distanz zurückzulegen.
Bei Kilometer elf die nächste Pause. Eine Aussichtsplattform ist eine gute Gelegenheit nochmal einen Energieriegel zu essen, und nochmal einen Schluck zu trinken. Gequält versucht man die Aussicht zu geniessen, auch das Lachen auf den Fotos fällt langsam schwer!
Wieder gehts hinauf auf das Rad, zwei Stunden sind seit der Abfahrt vergangen, noch vier Stunden dann werden die Fahrer oben sein. Reicht die Zeit auch für uns? Die Strecke beginnt immer schwerer zu werden, die berühmten Serpentinen der Berge bauen sich vor einem auf und nach jeder Kurve hofft man das es vielleicht mal ein Stückchen runter geht.
Bilder aus dem Fernsehen von Fahrten hoch nach Alpe d'Huez schiessen einem durch den Kopf, aber das ist kein Fernsehen das ist das echte Leben.
Immer wieder fahren Autos mit Geschwindigkeiten von 60 Km/h an einem vorbei, Leute stecken ihre Köpfe aus dem Fenster und lachen einen aus, weil man nicht das Auto genommen hat. Man denkt sich, man wird's ihnen schon noch zeigen, doch so langsam beginnen die Beine zu übersäuern. Mein Vater zieht ca. bei Kilometer dreizehn gnadenlos davon, und es kommt mir so vor als würden meine Schwester und ich nur noch stehen.
Zwei Kilometer weiter halten die Beine noch durch, zumindest an den parkenden Autos die sechs Kilometer vor dem Gipfel abgestellt werden müssen, so dass sich eine Parkschlange bis zu 9 Kilometer vor dem Bergende aufreiht, will man noch vorbei, all die Leute die einen eben noch schäbisch angegrinst haben, will man noch überholen, weil diese jetzt zu Fuss weiter müssen.
Noch 6 Kilometer, ein Kreisverkehr mit Polizisten kommt ins Sichtfeld, die nächste Serpentine beginnt dahinter. Von den Querelen gezeichnet steigt man kurz ab, die Beine ausschütteln, und setzt sich dann wieder aufs Fahrrad.
Doch es geht einfach nicht mehr! Auch unser Vater der am Kreisverkehr auf uns gewartet hat, muss seinen Drahtesel verlassen und zu Fuss weiter gehen.
Von Vegetation ist hier oben nichts mehr zu sehen, mindestens 30 Grad herrschen hier.
Doch je näher man dem Gipfel kommt desto kälter wird es. Mütze und Handschuhe werden aus dem Rucksack geholt es ist nicht mehr zum Aushalten.
Aufgrund des Wetterumschwungs beginnt man Kopfschmerzen zu bekommen. Gute Rennfahrer mit Rennrad und Ausruestung quälen sich im Schneckentempo an einem vorbei und man wünscht man könnte sich dranhängen aber es klappt einfach nicht. Man setzt kurz wieder auf, steigt aber auch sofort wieder ab, denn die Beine machen einfach nicht mehr mit. Man resigniert, der Berg hat mich besiegt sagt man sich selbst, auch ein wenig enttäuscht!
Doch es sind nur noch zwei Kilometer der Leuchturm auf der Bergspitze ist schon gut zusehen. Und mit diesem Signal vergisst man alle Schmerzen und setzt sich aufs Fahrrad und fährt seine kleine Tour der Leiden zu Ende.
Noch ein Kilometer, am Strassenrand stehen die Mannschaftswagen, die die Fahrer hinterher ins Hotel zurueckbringen. Man liest Namen wie Telekom, US Postal oder Mapei und guckt neidisch auf die Versorgungsmaßnahmen für die Fahrer die in den Autos liegen.
Die letzten 50 Meter sind dann allerdings etwas was man nicht häufig in seinem Leben erlebt. Man fühlt sich wie jemand der grade eine Bergetappe für sich entscheiden konnte, und würde am liebsten mit ausgebreiteten Armen die letzten Meter fahren. Oben angekommen erfasst einen erst einmal der Wind des Mont Ventoux (Deutsch: Windiger Berg) mit Spitzengeschwindigkeiten von 150 Km/h. Man versucht verzweifelt einen Stellplatz fuer sein Fahrrad zu finden, den man dann schliesslich auch findet.
Man kramt Sonnenbrille und Extrajacke aus dem Rucksack und steigt die letzten 100 Meter zur Strecke hinab. Die ersten Autos der Werbekarawane rauschen vorbei doch dafuer interessiert man sich nicht wirklich.
Man sucht sich einen guten Platz auf dem steinigen Untergrund und setzt sich hin um zu warten.
So langsam beginnt man die ganze Stimmung zu geniessen.
Ca. 50000 Fans stehen an der Strecke, die man ungefähr 500 Meter runter gucken kann, und viele haben Transparente und Plakate geschrieben und aufgehängt.
Liebling der meisten ist dabei Richard Virenque, doch auch Ullrich-Fans sind mit von der Partie.
Plötzlich beginnt eine Stimme aus den Lautsprechern zu sprechen, und alles verstummt und lauscht gespannt. Der Mann begrüsst die zahlreichen Fans und erklärt wo sich die Fahrer zur Zeit befinden und wie lange es noch dauern wird bis sie ankommen. Sie sind unten am Fusse des Berges und es dauert voraussichtlich noch eine gute Stunde sagt der Mann auf französisch. Eine gute Stunde um himmels Willen denkt man innerlich, wir selbst haben doch fünf stunden gebraucht, sind das wirklich Menschen?
Plötzlich brandet Jubel auf, die Namen der Fahrer aus der Spitzengruppe werden bekanntgegeben. Richard Virenque, Jan Ullrich, Joseba Beloki, Lance Armstrong, Christophe Moreau, Santiago Botero und Marco Pantani verliest die Stimme.
Die Fans sind aus dem Häuschen angesichts zweier Franzosen in der Gruppe. Immer wieder attackiert Pantani und immer wieder fällt Virenque zurück, die Zuschauer lassen enttäuscht die Köpfe hängen, doch Virenque kommt immer wieder zurück, und Pantani wird auch immer wieder eingeholt.
Die Fahrer befinden sich auf dem letzten Kilometer, bald müssten sie in Sichtweite kommen, erzählt der Mann. Innerlich ist man als eingefleischter Fan bei seiner ersten Touretappe wie bei seiner Einschulung zum Beispiel.
Und dann kommen sie, alle sieben noch beisammen und als man sie sieht sind alle Strapazen der vergangenen Stunden vergessen. Pantani attackiert wieder und nur Armstrong kann mitgehen. Die beiden fliegen an uns vorbei als wäre es nichts, doch man kann ihnen trotzdem für 10 Sekunden in die Gesichter gucken und vor allem tolle Fotos schießen, aus dem wir hinterher ein Tour de France Buch 2000 gemacht haben.
Dann folgt Ullrich, kurz dahinter Beloki, die Fans stehen Kopf. Jedem einzelnen ob Franzose oder Kolumbianer, ob Amerikaner oder Italiener, jedem - aber wirklich jedem einzelnen der dort oben ankommt wird zugejubelt und man selbst verspürt nichts als Begeisterung aber auch Respekt für die Leistung dieser Männer.
20 Minuten dauert es dann noch bis alle Fahrer im Ziel eintreffen, und plötzlich ist alles wieder vorbei. Die Menschen verlassen mit glücklichen Gesichtern den Schauplatz in Richtung Auto oder Fahrrad.och dann folgt erst der zweite Teil des Abenteuers Berg für uns! Nachdem man sich samt Fahrrad durch die gesamte Fußgängermasse durchgearbeitet hat, vorbei auch an den Mannschaftswagen, in die schon die ersten Fahrer einsteigen, beginnt die Abfahrt. Ein Erlebnis das ich auf jeden Fall noch mal erleben will.
Die ersten 6 Kilometer bis zum Kreisverkehr vergehen schnell, obwohl man aufgrund der engen Strasse und der vielen Fussgänger die schon früher gegangen sind, nur 40 Km/h fahren kann. Doch dann passiert man den Kreisverkehr und plötzlich ist die Strasse wie leer. Man rauscht mit 60-70 Km/h dem Tal entgegen und fühlt sich einfach nur frei! Auch wenn die Angst angesichts des Abgrunds auf der rechten Seite mitspielt, man lässt doch lieber rollen, denn es ist ein tolles Gefühl. Nach zehn Kilometern rauschen die ersten Mannschaftswagen schon an uns vorbei, die Fahrer rasen wirklich wie die wahnsinnigen. Naja nicht unser Problem denkt man und passt lieber auf seine Gesundheit auf, denn die spitzen Kurven häufen sich. Man muss oft bremsen damit man nicht zu schnell wird, und man weiss das die Strapazen der Hinfahrt sich gelohnt haben. Nach gut 20 Minuten ist die Abfahrt dann auch genommen, und den letzten kleinen Anstieg zum Camipngplatz fliegen wir hoch.
Angekommen gucke ich noch einmal hoch zum Gipfel und denke: "Ich werde wiederkommen, und dann schaffe ich es bis ganz oben, ich werde den Berg bezwingen".
Ich schlafe abends völlig erschöpft ein und träume von meinem vielleicht bisher schönsten Erlebnis.
von Niko, 15 Jahre (damals 14)