Im Sommer 2015 sprachen ehemalige Mitglieder des NOP in Interviews erstmals über dubiose Praktiken der Trainingsgruppe. Die Dopingfahnder der Usada nahmen daraufhin die Ermittlungen auf. Sie stellten E-Mails und ärztliche Aufzeichnungen sicher, sie vernahmen mehr als 40 Sportler, Trainer und Wissenschaftler und fassten die Ergebnisse in einem Report zusammen. Die Usada hat ihn für die Ärztekammer in Texas erstellt, da einer der NOP-Mediziner eine Praxis in Houston betreibt.
Der Bericht hat 269 Seiten, auf dem Deckblatt steht "vertraulich". Es geht um Spritzen, Infusionen und Experimente mit Medikamenten. Die Autoren schreiben von "riskanten Prozeduren", mit denen die "Testosteronlevel der Läufer erhöht werden sollten" und die "gegen die Regeln des Sport verstoßen". Dahinter steht der Vorwurf systematischen Dopings. Aus dem amerikanischen Traum scheint schmutzige Wirklichkeit geworden zu sein.
Dem SPIEGEL wurde der Report von der Hackergruppe Fancy Bears zugespielt, zusammen mit Hunderten E-Mails, PDF- und Word-Dokumenten aus den Usada-Ermittlungen: Sie legen das Ausmaß des Betrugs offen.
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Als Sportler war Salazar gnadenlos zu sich selbst, und ähnlich gnadenlos ist er heute offenbar zu seinen Athleten. Ehemalige Sportler des NOP haben der Usada von "extrem harten Laufeinheiten" berichtet. Wer im Training zu früh schlapp mache, sagten sie, werde von Salazar mit Nichtbeachtung bestraft.
Eine Athletin erzählte der Usada, wie sie einmal verletzt gewesen sei. Salazar habe ihr den Rat gegeben, "einfach durch den Schmerz durchzurennen". Auf Anfrage teilt Salazar mit, er würde seine Athleten "niemals dazu bringen, sich selbst zu schädigen".
Die Läufer des NOP verdienen rund 200.000 Dollar im Jahr, ein Traumgehalt für Leichtathleten. Die Stars im Team wie Rupp oder Farah dürften noch viel mehr bekommen. Laut dem Usada-Report entscheidet Salazar, welcher Athlet in seinem Team mitlaufen darf, wessen Vertrag verlängert wird oder wer gehen muss.
Er arbeite mit "Nötigung" und "Abhängigkeiten", schreiben die Ermittler. ... Salazar soll seinen Sportlern verbieten, über die Mittel und Medikamente zu sprechen, die sie einnehmen. Auch untereinander sollen sie sich nicht darüber unterhalten dürfen. Und das offensichtlich aus gutem Grund.
Ein ehemaliger Läufer des NOP erzählte den Dopingfahndern, dass Salazar bei sich zu Hause "einen Kellerraum voller Nahrungsergänzungsmittel" habe. Der Coach pflege seinen Vorrat an Aminosäuren, Testosteronboostern und Mitteln zur Gewichtsreduktion - Pillen und Pulver, die er großzügig an seine Sportler verteilt haben soll.
Salazar erklärt, er wollte vermeiden, dass seine Athleten Nahrungsergänzungsmittel nehmen, die mit verbotenen Substanzen verunreinigt sind. Er habe die Mittel testen lassen und sie dann "aus Sicherheitsgründen" bei sich aufbewahrt.
Bei jedem Dopingtest müssen Athleten ein Formular ausfüllen, die "Declaration of Use" (DOU). Darin geben sie an, welche Präparate sie in den vergangenen sieben Tagen eingenommen haben. Die DOU-Protokolle von mehreren Läufern aus Oregon decken sich ziemlich gut mit dem Bericht über Salazars Kellerraum.
Danach schluckt Galen Rupp Calciumtabletten, Eisentabletten, Zinktabletten, Vitamin C, D und E, außerdem nimmt er das Asthmamittel Advair, gleichzeitig noch Combivent, ein Medikament, das die Atemwege erweitert. Und Cytomel, mit dem man sein Gewicht reduzieren kann. Er behandle damit Erkrankungen, teilt Rupp auf Anfrage mit, er leide an Asthma und Schilddrüsenunterfunktion.
Seine Teamkollegin Shannon Rowbury, die bei den Spielen in Rio Vierte über 1500 Meter wurde, listet in ihrer DOU vom 23. Mai 2016 35 Tabletten, Sprays und Pülverchen auf. Laut ihrem Protokoll nimmt sie ein Allergiemittel, es heißt Montelukast, außerdem noch ein Magnesiumspray, Molkenprodukte, ein Glukosegetränk, Schmerz- und Schlafmittel.
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Coach Salazar sei "besessen vom Testosteronlevel seiner Athleten", heißt es im Usada-Report. Er führe riskante Experimente durch, um bei seinen Sportlern die Produktion des Hormons zu erhöhen. Mit Vitamin D zum Beispiel. Die empfohlene Dosis für Erwachsene liegt bei 600 IE pro Tag, IE steht für Internationale Einheit. Die Pillen, die Salazar seinen Läufern gibt, enthalten laut Usada 50.000 IE. Er halte die Athleten an, sie mehrmals pro Woche zu schlucken.
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Im Januar 2011 stieß Salazar auf eine Studie britischer Forscher. Es ging um ein neues Nahrungsergänzungsmittel namens Nutramet, das L-Carnitin enthält, eine Aminosäurenverbindung, die an der Energieproduktion in Muskelzellen beteiligt ist. Die Wissenschaftler behaupteten, L-Carnitin könne Ausdauersportlern einen Schub für den Schlussspurt geben. In dem Aufsatz war die Rede von einer Leistungssteigerung um bis zu elf Prozent.
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Salazar hatte vom Hersteller erfahren, dass das L-Carnitin bis zu vier Monate genommen werden muss, bevor es wirkt. Dem Coach dauerte das zu lange, er beriet sich mit Doktor Jeffrey Brown, dem Teamarzt aus Houston. Salazar kam auf eine Idee: Könne man den Läufern L-Carnitin nicht per Infusion einflößen? Der Arzt hatte Bedenken. "Es könnte Probleme mit der Bauchspeicheldrüse geben", schrieb Brown an Salazar. Die Antwort des Trainers: "Wir haben nichts zu verlieren." Auch einigen Athleten gefiel die Idee mit den Infusionen nicht. Salazar tippte los: "Ich glaube, dass ihr dadurch einen Vorteil von zwei bis drei Minuten bekommen könnt." Mail absenden, alle Zweifel weggewischt.
Salazar entschied, dass ein Kotrainer die erste Infusion bekommen sollte, als Probelauf. Das Ergebnis war in Salazars Sinn. Am 1. Dezember 2011 meldete er sich per E-Mail bei Lance Armstrong, der sich damals als Triathlet versuchte und mit dem NOP trainierte: "Lance, ruf mich an. Wir haben es getestet, und es ist wirklich unfassbar." Er setzte auch mehrere Nike-Manager in Kopie, etwa den damaligen Firmenchef Tom Clarke.
Laut dem Usada-Bericht sollen von 2011 an mindestens fünf Läufer des Nike Oregon Projects L-Carnitin-Infusionen bekommen haben, darunter auch Rupp. In dem Report heißt es, die Sportler seien "Versuchskaninchen" gewesen.
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Die Recherchen der Usada ergaben, dass eine Apotheke in der Nähe von Houston die entsprechenden Infusionsbeutel für die Läufer hergestellt hatte. Die Fahnder sind im Besitz eines Formulars aus der Apotheke vom 4. Januar 2012, danach wurden vier 100-Milliliter-Beutel mit L-Carnitin vorbereitet. Am darauffolgenden Tag bekam Rupp von seinem Arzt eine Infusion.
Die Ermittler halten es für "sehr wahrscheinlich", dass Rupp von Brown "eine Infusion von mehr als 50 Millilitern L-Carnitin" erhalten hat. Beide hätten damit "gegen die Anti-Doping-Regeln verstoßen". Rupp müsste gesperrt werden.
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Seit Jahren, auch das zeigt ihr Report, soll Salazar auf Schilddrüsenhormone schwören. Die Mittel heißen Levoxyl, Thyroxin und Cytomel. Brown soll den Athleten die Medikamente verschrieben haben, obwohl sie gar nicht unter einer Schilddrüsenerkrankung leiden würden.
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Der SPIEGEL hat [Perikles Simon] ihm E-Mails von Salazar vorgelegt. "Dieser Trainer betätigt sich als Alchemist, Drogenbeschaffer und Hormonpanscher am Athleten", sagt Simon, "er gehört unmittelbar gesperrt, da gibt es keinen Grund für ein Zögern." Für die Usada ist die Sache komplizierter. In ihrem Vorhaben, die Läufer aus Oregon zu überführen, haben sich die Dopingjäger mit einem mächtigen Gegner angelegt: Nike, dem größten Sportartikelkonzern der Welt, Umsatz: 29 Milliarden Euro.
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Dokumente zeigen, dass der Konzern den Ermittlern das Leben so schwer wie möglich gemacht hat. Im Juni 2015 baten die Fahnder Salazar, ihnen alle Aufzeichnungen, Dokumente und E-Mails zukommen zu lassen, in denen die Wörter "Testosteron", "Testoboost" oder "Testo" vorkommen. Salazar weigerte sich. Sein Anwalt richtete der Usada aus, dass die E-Mails seines Mandanten auf dem Server von Nike lägen und im Besitz der Firma seien. Da könne man nichts machen, sorry.
Die Ermittler wandten sich daraufhin an den Konzern. Es begann ein Streit zwischen den Anwälten von Nike und der Usada. Nike teilte den Ermittlern mit, man habe nichts gegen eine Kooperation, allerdings wolle man mit der Usada "einen Vertrag über Geheimhaltungsbestimmungen" abschließen.
Die Verhandlungen waren zäh, sie zogen sich über Wochen. Am 21. Januar 2016 reichte es dem Usada-Anwalt William Bock, in einer E-Mail an einen Nike-Vertreter machte er sich Luft: "Würden wir auf die Forderungen von Nike eingehen, hätte Nike die Möglichkeit, unsere Ermittlungen zu stören oder zu verzögern. Nike hätte auch die einseitige Kontrolle über Dokumente, die bereits im Besitz der Usada sind, und könnte uns verbieten, diese in einer Anhörung einzusetzen."
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Nike weist die Anschuldigungen zurück. Man habe die Ermittlungen "nicht behindert" und würde "Doping nicht tolerieren", sagt ein Firmensprecher. Nike habe der Usada auch "Tausende Seiten an Dokumenten" überlassen. Das stimmt. Allerdings geht aus internen E-Mails der Usada hervor, dass die Ermittler die Unterlagen für "dürftig" und "längst nicht ausreichend" hielten.
Am Ende bleibt der Usada nur, die Läufer aus Oregon zur Dopingkontrolle zu bitten. So oft wie möglich. Rupp musste in der vergangenen Saison 14-mal antreten, Centrowitz 17-mal. Beide gaben dabei auch Proben ab, die die Dopingfahnder misstrauisch machten.
Am 14. Januar 2016 empfing der Usada-Wissenschaftsdirektor Matthew Fedoruk eine E-Mail aus seiner Abteilung für Testergebnisse. Bei Rupp habe man "einen erhöhten T/E-Wert im Vergleich zu früheren Proben" festgestellt, schrieb eine Usada-Mitarbeiterin. Ein stark ungleiches Verhältnis zwischen Testosteron und Epitestosteron gilt als Hinweis auf Doping. Fedoruk ordnete weitere Untersuchungen an. Was dabei herauskam, ist nicht bekannt. Rupp teilt mit, niemals Testosteron genommen zu haben.
Wenige Wochen vor den Spielen in Rio diskutierten die Usada-Mitarbeiter in einem internen E-Mail-Verkehr über eine Dopingprobe, die Centrowitz abgegeben hatte. Es ging um den Hämoglobingehalt und um Retikulozyten. "Sein Blutprofil ist verdächtig", schrieb ein Usada-Wissenschaftler am 15. Juni 2016. Die Fahnder einigten sich darauf, Centrowitz "in den kommenden zwei Wochen" ein weiteres Mal testen zu lassen. Ob das geschehen ist, geht aus den E-Mails nicht hervor.
Fest steht: Zwei Monate später wurde Centrowitz in Rio Olympiasieger. Im Finale über 1500 Meter war er so überlegen, dass er das Läuferfeld vom Startschuss bis ins Ziel anführte. Centrowitz erklärt, er sei von der Usada bezüglich der Dopingprobe nie kontaktiert worden. Er habe sich "einem sauberen Sport verschrieben".
Usada gegen Nike - die schärfsten Dopingjäger gegen die Weltfirma -, wie dieser Kampf ausgehen wird, ist ungewiss. Auf Anfrage teilt die Usada mit, dass man zum Nike Oregon Project derzeit keinen Kommentar abgebe. "Die Ermittlungen dauern an", sagt ein Sprecher.
Der Usada-Report ist als "Zwischenbericht" gekennzeichnet, ob es irgendwann einen Abschlussbericht geben wird, wollen die Ermittler auch nicht sagen. Offene Fragen gibt es genug.
So ist zum Beispiel seit längerer Zeit bekannt, dass Salazar häufig Androgel bei sich trägt, eine Testosteronsalbe, die man auf den Körper auftragen muss. Der Trainer behauptet, er leide unter Hypogonadismus, einer Störung der Hoden. Die Krankheit sei eine Spätfolge seines harten Trainings als Marathonläufer, er sei auf das Medikament angewiesen.
Allerdings ist es auch Trainern nicht erlaubt, Substanzen zu nehmen, die auf der Dopingliste stehen. Es sei denn, die Betreuer haben eine "vertretbare Rechtfertigung" dafür, so steht es im Wada-Code. Salazar hat der Usada im Frühjahr 2016 mehrere Schreiben seiner Ärzte vorgelegt, allerdings kaufen ihm die Fahnder die Geschichte mit den Folgeschäden nicht ab. Sie glauben an einen ganz anderen Zusammenhang.
Ehemalige Athleten von Salazar haben ausgesagt, dass der Trainer vor wichtigen Wettkämpfen eine "gängige Praxis" habe. Kurz vor dem Start gebe er Rupp eine Massage. Die anderen Läufer hätten sich über die Behandlungen immer gewundert, weil Nike dafür extra professionelle Masseure angestellt hat. Salazar würde aber darauf bestehen, Rupp persönlich zu massieren.
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