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Das erste Berliner Sechstagerennen 1909, Teil 2

Kabinenspionage

Eines Tages kam Techmer ganz aufgeregt aus seiner Kabine und stellte die Behauptung auf, dass jemand, während er geschlafen habe, über die oben offenen Kabinen geklettert sei. Man merkte auf, und machte die Beobachtung, dass ein amerikanischer Manager in der tat über den Kabinen herumkletterte, um zu sehen, welche Fahrer schlafen und was sich sonst in den Kabinen zutrug. Die Nachrichten wurden dann schnell weiter gegeben und die vielen Spurts bei Abwesenheit guter Fahrer fanden durch diese Beobachtung eine Erklärung.

 

Am vierten Tag wurde Stol, der sich zum ersten Male einem längeren Schlafe hingeben wollte, aus der Kabine geholt, weil Berthet in Gefahr war, eine Runde zu verlieren. Stol war kaum munter zu kriegen, er wehrte sich heftig und erst, als ihm sein Manager ins Ohr schrie: „Du verlierst das Rennen,“ spreng er auf und holte das verlorene Terrain wieder zurück.

 

Überhaupt war der Schlaf, wie Rütt ganz richtig sagte, der schlimmste Feind der Fahrer. Die meisten wurden sehr ungemütlich, wenn man sie weckte, und erklärten, dass ihnen alles ganz gleichgültig sei. Erst durch Bäder wurden sie wieder auf die Beine und auf die Räder gebracht.

 

Die langweiligste Zeit für die Fahrer waren die Vormittage, weil nur wenig Publikum die Zuschauerräume besetzte, sie amüsierten sich dann auf eigene Faust. Eines Morgens nahm Berthet einem an der Bahn stehenden Schutzmann den Helm fort, setzte ihn auf und fuhr einige Runden. Der Schutzmann lief eine Strecke hinter dem Franzosen her, gab dann aber die Jagd auf und wartete, bis er seine Kopfbedeckung wiederbekam.



 

Aber nicht nur Heiteres, sondern auch Ernstes spielte sich hinter den Kulissen des Sechstagerennens ab. Wie Rütt mir im Vertrauen mitgeteilt hatte, tritt bei allen Fahrern im Zustande der Ermüdung eine starke Sentimentalität hervor. Rütt erzählte, das kräftige Männer unter den Fahrern plötzlich zu weinen angefangen haben und nicht mehr zu bewegen waren, das Rennen fortzusetzen. Auch im Zoo ereigneten sich derartige Fälle, doch es gelang fast stets , die Fahrer zu beruhigen. Nachdem die Schwäche überwunden war, setzten sie das Rennen tapfer fort. Wir wollen keine Namen nennen, aber wir haben Männer weinen sehen, die selbst bei einem schweren Sturze vor Schmerz keine Miene verziehen.

 



Während die Fahrer die Bahn umkreisten, rackerten sich die Manager in den Lagestätten und Kabinen ab, aber auch für sie kam die Zeit der Ruhe und der Zerstreuung. Vom Schlaf überwältigt, schliefen verschiedene Manager auf den Stühlen im Innenraum ein und an diesen liessen die Rennfahrer und Trainer ihren Humor aus. Mit Kohle schwärzte man dem Schlafenden das Gesicht, hängte ihm einen vertrockneten Lorbeerkranz um und gab ihm einen Besen als Gewehr in den Arm. Einem anderen setzte man eine Ananas-Krone auf, zog ihm alte Stiefel an und dekorierte ihn mit Zitronenscheiben und anderem Gemüse. Grosse Heiterkeit erregte das Erwachen des Dekorierten, der sich schnell zurückzog, um dem Lachen seiner schadenfrohen Genossen zu entgehen.

 

Unten in der Halle fuhren die Renner Runde um Runde, aber auch oben auf der Galerie gab es Runde um Runde. Der Sekt floss in Strömen und zwar nicht nur an den Tischen des Restaurants, sondern auch im Rennbureau. Es war ein fideles Gefängnis, in dem die Herren vom Komitee sechs Tage und sechs Nächte festgehalten wurden und in denen ich als Berichterstatter der „Rad-Welt“ eine Woche an der Schreibmaschine verbrachte und ein Leben wie ein Nachtwächter führte.

 

In ein lustiges Sektgelage platzte eines Nachts der Manager Hinz, der nach der Auswanderung der Nieren Theiles in Robls und Pawkes Dienste getreten war, mit der Behauptung hinein, dass immer einer hinter ihm sei und ihn hinausschmeissen wolle. Erst als Hinz sich durch eine Schlaf von der Hallucination erholt hatte, konnte er seinen Dienst wieder antreten. – Im Rennfahrerlager herrschte am vierten Tage grosse Aufregung, denn der von Sentimentalität befallene Berthet erklärte weinend, dass sich Stol habe bestechen lassen und die Amerikaner das Rennen gewinnen sollten. Man war allgemein darüber erstaunt und nahe daran, den Worten des Franzosen zu glauben, als Stol eingriff und die Manager ersuchte, seinen Partner ausschlafen zu lassen. Der Holländer kannte derartige Fälle und sollte auch Recht behalten, denn als Berthet ausgeschlafen hatte, erklärte er, von nichts mehr zu wissen.

 

Der am zweiten Tag halbtote Poulain blieb bis zum Schluss im Rennen und ebenso Arend, der den Rekord von fünf Partnern aufstellte.  Der Weltmeister, dessen Lieblingsbeschäftigung im Leeren von Sektflaschen bestand, fuhr mit Rosenlöcher, Althoff, Conrad, Hoffmann und richtete als letztes Opfer Oskar Peter hin.

 

Die phantastischen Kopfbedeckungen der Fahrer, die Stol gelegentlich eines Bockbierfestes besorgt hatte, erregten die Heiterkeit der Zuschauer in den Vormittagsstunden. Nachmittags und abends waren die Fahrer artiger und besonders, wenn der Kronprinz erschien, befleissigten sie sich eines ernsten Tones.



 

Schlimme Tage waren der Mittwoch, der Donnerstag und der Freitag. Es war nicht alles Gold, was glänzte, und nicht alle Fahrer, welche vor den Augen des Publikums noch frisch erschienen, waren noch auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit. In den Kabinen gab es schwere Kämpfe zwischen den Managern und den Fahrern, und mehr als einmal stand das ganze Rennen in Frage.

 

Der Schlusstag machte alles wieder gut. Frisch gewaschen und gekämmt kamen die Fahrer auf die Bahn und im flotten Tempo ging es dem Ende des Rennens zu. Unsere deutschen Fahrer hatten sich brillant gehalten und den Ausländern gezeigt, dass sie auch fahren können. Einen dramatischen Augenblick gab es noch am Schluss, als Stol, der mit der Kraft der Verzweiflung noch im letzten Augenblick versucht hatte, den Amerikanern die verlorene Runde zu entreissen, in seiner Kabine zusammensank und sich lange Zeit nicht über den Verlust des Rennens beruhigen konnte.



Die Erfahrungen aus dem Sechstagerennen waren sehr reich, aber besonders interessant waren sie für die Aerzte, denen zum erstem Male Gelegenheit geboten wurde, Rennfahrer, die tagelang auf dem Rade verweilten, untersuchen zu können. Es wurden viele Röntgenaufnahmen gemacht und dabei festgestellt, dass bei den meisten Fahrern eine Herzerweiterung eintrat. Gesundheitliche Nachteile wurden nicht festgestellt und abgesehen von der Abmagerung wiesen die Sechstagerenner keine körperlichen Veränderungen auf. Von Robl hatten die Aerzte eine sehr schlechte Meinung und einer der Herren Mediziner erklärte, seine ganze Praxis aufgeben zu wollen, wenn der Münchener länger als 24 Stunden im Rennen bleibe. Robl hat die sechs Tage durchgehalten, aber soviel wir wissen, praktiziert der Arzt immer noch. Die beste Verfassung hatte Stol aufzuweisen, über dessen Körperzustand die Aerzte ganz erstaunt waren. Am schlechtesten sah Tadewald aus, dessen Körpergewicht enorm heruntergegangen war und der noch lange Zeit nach dem Rennen einen bedauernswerten Eindruck machte, obgleich er sich ganz wohl fühlte.

 

Von den Sechstage-Managern lernten die Aerzte viel. Die Behandlung der Fahrer war so eigenartig, dass die ärztliche Kunst bei manchen Dingen vor einem Rätsel stand, das von irgend einem simplen Manager mit einer Spezialmixtur ohne weiteres gelöst wurde.

 

Die schlimmsten Uebel für die Fahrer waren das Durchfahren, das Versagen des Knochenöles in den Kniegelenken und das Erlahmen der Arme. Noch monatelang waren den meisten Fahrern der kleine und der Ringfinger an beiden Händen abgestorben und das Genick steif. Erst mit der Zeit legten sich diese Uebelstände und die Sechstagerenner konnten wieder allein und mit Messer und Gabel essen, was ihnen lange Zeit unmöglich war. 



 

Noch lange nach dem Rennen sprach man von den Tagen und Nächten im „Zoo“ und selbst die Zirkusbesucher wurden durch den Clown Adolf, einen alten Radfahrerfreund, allabendlich an das Rennen erinnert. In der einen Hand einen Riesenkranz aus Stroh, in der anderen ein gänzlich verborgenes Rad, erschien Adolf im Renntrikot in der Manege. Auf die Frage, was er denn wolle, erklärte er, er müsse eine Ehrenrunde fahren.

„Haben Sie denn das Rennen gewonnen?“

„Das nicht, aber ich habe sechs Tage lang zugesehen.“

 

Ist es auch Unsinn, hat es doch Bedeutung, denn nicht jeder ist den Strapazen eines Sechstagerennens als Zuschauer oder gar als Berichterstatter gewachsen.



 

 

Quelle: Sport-Album der Radwelt, 8. Jahrgang, 1910


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