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Radlerprosa



etc. PP - Posers Prosa

Ernstes, Lustiges, Skurriles von Radsportfan Manfred Poser - <a href="http://manipogo.de/">manipogo</a>



der Placebo-Effekt im Radsport / im Sport



Doping und der Placebo-Effekt

In der Medizin wird viel über den Placebo-Effekt geschrieben und nachgedacht. Es ist ja unerhört, dass Menschen auch ohne Pillen gesund werden, wenn man sie nur warmherzig betreut. Seit 60 Jahren gibt es den Begriff Placebo-Effekt, und Studien an Hunderttausenden Menschen haben ihn erhärtet. Man meint sogar, dass die pharmakologische Substanz in einer Pille manchmal nur zu 25 Prozent für die Wirkung (den Effekt) verantwortlich ist - und 50 Prozent einer geheimnisvollen Selbstheilungskraft zuzuschreiben sind, die gar nicht so geheimnisvoll ist, wenn man bedenkt, dass die Menschheit Jahrhunderte ohne die Pharmazeutika auskam und Tiere in freier Wildbahn ohne Arzt wieder gesund werden.

 

Überall ist der Placebo-Effekt drin, oder anders gesagt: Natürliche Mechanismen im Körper sowie die Psyche wirken mit, wenn jemand sich eine Substanz einwirft. Ob jemand geheilt werden oder eine sportliche Höchstleistung vollbringen will, spielt da keine Rolle. Wenn der Gedopte schlecht drauf ist, wird das Mittel schwächer wirken. Wir können nie eine objektive, bei allen gleiche Wirkung eines Mittels annehmen; die Psyche mischt mit. Sportler haben Angst oder Sorgen; oder sie brennen auf den Wettkampf und sind „heiß“.

 

Ich verwende am besten gleich eine Passage aus meinem Buch „Radsport furios“ (2016):

Fausto Coppi fuhr gegen Ende seiner Karriere, Ende der 1950er Jahre, viele Bahnrennen. Mit seinem Kollegen Defilippis sollte er gegen Frankreich (Anquetil, Darrigade) und Belgien (Van Steenbergen, Van Looy) antreten. Beppe Conti erzählt in seinem Buch „Storie segrete“ (Geheime Geschichten): „Im Massageraum vor dem Start. Coppi: ‚Nino, ich weiß, dass du eine Spritze setzen kannst. Bereitest du mir eine mit diesem Produkt vor? Du weißt, ich bin am Ende meiner Karriere. Die Leute rufen meinen Namen, jubeln mir zu. Ihr seid jung und stark, da möchte ich mich nicht blamieren. Ich möchte dem Rennen noch einmal gewachsen sein.’

‚Fausto’, antwortete Defilippis, ‚Du bist Coppi. Und wenn du noch diese kleine Ampulle nimmst, wie schaffe ich es dann, dir gewachsen zu sein, da wir ja zu zweit fahren? Wir machen es so, ich gebe dir die Hälfte dieser Ampulle, und der Rest ist für mich. So sind wir gleich.’ Defilippis lächelt noch heute, als er sich das Geschehen vor Augen führt. Coppi akzeptierte, aber er vergass, genau hinzuschauen. Und Nino enthüllt: ‚In Wirklichkeit machte ich drei Viertel der Ampulle für mich und nur ein Viertel für Fausto. Er fuhr trotzdem wie der Teufel und bekam regelrechte Ovationen, wie er sie immer vom Pariser Publikum erhielt.’“



Das Placebo-Problem

Am 9.4.2019 wurde das Thema
auch von Professor Harald Lesch in seinem Wissenschaftsmagazin Leschs Kosmos angesprochen
Alles Kopfsache? Die Kraft der Selbstheilung
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Coppi glaubte, die halbe Spritze bekommen zu haben, und er fuhr wie der Teufel und gerade so, als hätte er sie auch bekommen. Weil er es glaubte. Dabei bekam er nur ein Viertel. Das ist das Placebo-Phänomen, das auch im Sport vorkommt.

 

Im Jahr 2000 ließ man 43 Radsportler 40 Kilometer gegen die Zeit fahren. Eine Gruppe bekam nur Wasser, eine ein kohlehydratgesättigtes Getränk, und die dritte ein Getränk, das nach Kohlehydraten schmeckte, aber keine solchen enthielt. Nun sagte man einem Teil der Gruppen zwei und drei, in ihren Getränken sei Kraft drin, dem anderen Teil jedoch, das Präparat sei wirkungslos. (So glaubte auch ein Teil der Fahrer, die wirklich Kraft bekommen hatten, sie seien leer ausgegangen.) Ergebnis: Die Sportler, denen man gesagt hatte, dass sie Kohlehydrate bekommen hätten (auch die „leer ausgegangenen“), fuhren um 3,8 Prozent stärker.

 

Vor allem: Die, die tatsächlich etwas bekommen hatten, denen aber das Gegenteil gesagt worden war, konnten die Kraft daraus nicht abrufen. Sie glaubten nicht, dass sie etwas bekommen hätten. Wenn ein Patient nicht glaubt, dass er gerettet werden kann, hilft ihm auch das richtige Mittel zur richtigen Zeit nicht. Er folgt seinem Glauben und geht unter.

 

Fabrizio Benedetti, der die Studie erwähnt hat, meinte darum, und er meinte es ernst: Man könne Sportlern in den Wochen vor dem Wettkampf Morphin zuführen, damit sie eher Schmerzen aushalten und ihre Ausdauer besser würde, - und dann, während des Wettkampfs, gäbe man ihnen ein Placebo, etwa eine Spritze mit einer Salzlösung. Sie würden besser fahren, und man würde ihnen zudem nichts nachweisen können. Aber, das ethische Problem: Man müsste sie glauben machen, sie würden wirklich Morphin erhalten; das heißt, die Fahrer würden in Doping eingewilligt haben, ohne tatsächlich gedopt zu sein, denn würde man es ihnen gesagt haben, wäre das Mittel wirkungslos geblieben. Die Leistung ist also mit einer Lüge erkauft.

 

Geht also nicht. Auch in der Medizin darf ein Arzt kein Placebo verschreiben, und lügen soll er auch nicht. Aber muss er bei einer Diagnose gnadenlos ehrlich sein und dem Patienten den Boden unter den Füßen wegziehen? Das wäre, wie wenn der Trainer sagte: „Junge, du kannst gern fahren, aber du wirst das nicht packen.“ Hoffnung geht immer und kostet nichts. Man kann zwar eine hoffnungslose Diagnose nicht umbiegen, aber man kann immer sagen, dass noch alles drin ist, dass es oft Wunder gab.

 

Mit meinem Beitrag möchte ich nur darlegen, dass auch beim Doping nicht von einer objektiv messbaren, bei allen Sportlern gleichen Wirkung ausgegangen werden kann. Immer ist der Placebo-Effekt hinein gemengt. Je stärker das Mittel, desto stärker dieser Placebo-Effekt, also die psychische „Zugabe“, die auf dem Glauben basiert, gut gedopt worden zu sein, die bei Coppi funktionierte.

 



Motivation durch Glauben

Fred Frohock hat in seinem Buch „Healing Powers“ dazu die hübsche Geschichte von James Abbott und seinem Bruder Paul erzählt, der vier oder fünf Jahre alt war. James mischte eine schwer identifizierbare Mixtur zusammen – irgendwelche harmlosen Säfte - und sagte Paul, dieser Wundertrank würde ihn weiter springen lassen als je zuvor. Der kleine Paul trank das Wundergebräu. Dann legte er Weitsprünge hin, dass man meinte, er schwebe über der Erde, erzählte James Abbott. Die Magie habe immer gewirkt.

 

Kinder sind freilich leicht zu beeindrucken. Aber der Glaube versetzt Berge, heißt es in der Bibel. Der Placebo-Effekt wird zuweilen auch als „Glaubens-Effekt“ bezeichnet. Eine Kranke glaubt an ihren Arzt, und die Pille, die er wie ein Sakrament verschreibt, hilft auch auf wundersame Weise. Auf sie wird die ganze Hoffnung projiziert, und sie wirkt nicht allein, sondern der Körper wird zur Heilung motiviert.

 

Es gab Chirurgen, die gern ihren Patienten, den sie am nächsten Tag unters Messer nehmen wollten, mit einem sprechen ließen, der die Operation bereits hinter sich hatte. Dieses Vorbild schuf Hoffnung und die Erwartung der Heilung in dem Kranken. Er kann sich die Heilung vorstellen, und die Vorstellungskraft schlägt sogar manchmal den Glauben, den Willen immer.

 



Der Nachlaufreflex

Ein voraus fahrender Radler weckt in uns mehr Kräfte, als wir zunächst in uns gespürt hatten. Erst waren wir bloß so dahingeradelt, plötzlich geben wir Gas. Als ich 2017 in Karlsruhe die hundert Meilen mit meinem alten italienischen Rad fuhr, fehlten noch 20 Kilometer, und dann begleitete mich ein junger Slowake, und ich hielt mit und steigerte mich in einen Fahrrausch hinein, dass sogar der 40 Jahre Jüngere nicht mehr mithalten konnte. Das ist vermutlich der in uns abgespeicherte Nachlauf- oder Verfolgungsreflex, der bedenkenswert ist. Denn ohne es richtig zu merken, hole ich mehr aus mir heraus: Als wäre ich gedopt.

 

Der Tempomacher vorn hilft nicht nur durch seinen Windschatten; er spornt auch an. Der psychische „Kick“ , der über den rein physischen Effekt des Windschattens hinausgeht, wäre etwa mit dem Placebo-Effekt zu vergleichen. In einem Rennen um den Bodensee schloss ich mich einer Fünfer-Gruppe aus Berlin an, wir fuhren 100 Kilometer in drei Stunden, für mich bislang undenkbar, aber es war auch die unbändige Freude am Dahinjagen im Schutz des kleinen Pulks, die zu dieser Leistung führte.

 

Die Duelle im Radsport sind die Illustration auf einer anderen Ebene. Ohne Ullrich hätte Armstrong nicht so viel aus sich herausgeholt, ohne Poulidor wäre Anquetil nicht über sich hinausgewachsen. Gegnerschaft motiviert, ohne ernstzunehmende Konkurrenten geben wir auch nicht alles, weil wir es nicht müssen.

 

Tim Krabbé erzählte von dem Radfahrer Hamilton, der 1899 als erster mehr als 40 Kilometer in der Stunde auf der Bahn fuhr. Er sei disqualifiziert worden, weil er sich von einem Lichtpunkt Tempo hatte machen lassen, der vor ihm auf die Bahn projiziert wurde. „Mit dieser Disqualifikation war die Union Cycliste Internationale der erste Sportverband, der offiziell anerkannte, dass der Sportler eine Psyche hat“, schreibt Krabbé. War das Doping? Nein, darunter verstehen wir die Zuführung von verbotenen Stoffen, die die Leistung steigern sollen.

 

Der Lichtpunkt war sichtbare Motivation. Wir wollen etwas erreichen, es liegt vor uns und ist möglich, ist erreichbar durch eine besondere Leistung. Wir stellen uns den Sieg vor – die Vorstellungskraft! ?, wir wollen ihn! Wenn du eine gute Note schreibst, kriegst du ein Fahrrad, sagt man dem Kind. Das wirkt Wunder.

 

Es gibt auch das Gegenteil: dass dich etwas runterholt und demotiviert. In dem Buch „Das Rennen gegen die Stasi“ von Herbie Sykes (2015) erzählt der ehemalige Radrennfahrer Axel Peschel, 1968 Sieger der Friedensfahrt, von der Jugoslawien-Rundfahrt 1969. Vorn lag Joop Zoetemelk, der in den nächsten Jahren mehrmals Zweiter der Tour de France wurde (und sie 1980 gewann), Peschel war Zweiter.

„Ford sponserte die Rundfahrt, und die ersten drei der Gesamtwertung sollten jeweils ein Auto erhalten. Die drei Autos standen auf einem Lastwagen, der vor dem Feld herfuhr, also hatten wir sie jeden Tag vor Augen [wie den Lichtpunkt, aber das war noch besser! Anm. des Autors]. Das war ein enormer Anreiz, wie man sich gut vorstellen kann. Dann kam einer der DDR-Funktionäre zu mir und sagte: ‚Ihnen ist schon klar, dass Sie das Auto nicht behalten können, wenn Sie es gewinnen sollten. Es ist für die Botschaft der DDR in Jugoslawien bestimmt, nicht für Sie persönlich.‘

Und was passierte? Ich wurde Vierter.“ (S. 322)



Psycho-Doping

Vielleicht ist es banal, darauf hinzuweisen, dass der Sportler sich motivieren und motiviert sein muss. Unser Antriebssystem funktioniert, wenn es ein Ziel hat. Mit allem Tun, auch dem kleinsten, will man etwas erreichen. Irgendwie strebt man damit auch einem Gesamtziel zu.

 

In der Heilung wirkt sich die Zuwendung eines Menschen aus und das Vertrauen, das wir ihm schenken. Eine gute Interaktion in einem schönen Heilungsumfeld wirkt Wunder – leider haben Ärztinnen und Ärzte wenig Zeit und verschenken die Möglichkeit, dem Patienten mit Wärme Mut zu machen. Immer noch sind die meisten Leiden, mit denen Leute zum Hausarzt gehen, psychosomatischer Natur. Man muss ihnen gut zureden.

 

Auch im Leistungssport ist Motivation alles. „Psycho-Doping“ als Name fürs Motivieren ist unschön und erinnert an Boulevardjournalismus; doch genau mit dieser Taktik hat man die Selbstheilungskräfte des Menschen und die Wirkungen des Glaubens in der Medizin in ein schiefes Licht gerückt, indem man den Begriff „Placebo-Effekt“ schuf, denn ein Placebo ist ja eine Pille, in der nichts drin ist, angeblich also ein Betrügerlein. Doch der Glaube daran, dass sie das „Wahre“ ist (das Verum), schafft Wunder.

 

70 Prozent der Leistung wird „im Kopf“ erzeugt, und die besten Fußball-Trainer waren Menschen, die auch andere zu begeistern verstanden, deren Begeisterung ansteckend wirkte … und deren Standpauken in der Halbzeitpause aufrüttelnd. Wie bei der Heilung müssen die Sportlerinnen und Sportler aber vom Trainer und ihrem Potenzial überzeugt sein, und im Sport schieben sich zwischen die eigene Leistung und den Sieg noch die nicht zu unterschätzenden Schwierigkeiten, dass es Kontrahenten gibt, die einem den Sieg nicht gönnen, und dass die Würfel des Zufalls so fallen, wie sie wollen.

Es ist bekannt, dass im Leistungssport die Athletin und der Athlet nicht ausreichend betreut werden. Es mag hier und da einen Psychologen, eine Psychologin geben, aber meist kleidet man die Sportler ein, gibt ihnen gut zu essen und schickt sie ins Rennen. So wie in der Psychiatrie und in der Medizin die Handelnden auf Medizin setzen, also auf materielle Substanzen, so meint man, mit guter Ausrüstung und einem guten Hotel hätte man die Sache schon im Sack. (Vielleicht hat sich ja auch was geändert, es geht um viel Geld, das aber als Motivator nicht genügt. Soldaten, die für eine Idee kämpften, an die sie unbedingt glaubten, kämpften am besten. Söldner marodierten bloß.)

 

Man kann Athleten nicht gut genug betreuen. Wenn es schon Leistungssport geben muss, so sollte man ihn nach Möglichkeit als Weg zur Vervollkommung betrachten. Vertrauensvolle Trainer müssen da sein, ein Rückschlag ist kein Weltuntergang, auch der Wettkampf-Sport muss erlernt werden, und vor allem: Vermittelt den Glauben an die eigene Leistung! Du kannst das! Und: Da geht noch mehr!

 



&copy Text Manfred Poser, März 2019


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