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Radlerprosa



etc. PP - Posers Prosa

Ernstes, Lustiges, Skurriles von Radsportfan Manfred Poser - <a href="http://manipogo.de/">manipogo</a>



Col du Galibier und Col de la Madeleine



In der Weltmetropole der Passfahrer



Es gibt ein Städtchen in einem Savoyer Tal, das den Vorzug besitzt, inmitten der populärsten Berge der Tour de France zu hocken. Von St. Jean-de-Maurienne aus, 150 Kilometer von Genf entfernt, erreicht man leicht, sternförmig ausschwärmend, den Galibier (2642 m), den Col de la Croix du Fer (2047) und den Col de la Madeleine (1993). Alpe d’Huez liegt 30 Kilometer südwestlich, der Col de l’Iseran mit seinen beeindruckenden 2770 Metern etwa 50 Kilometer im Osten. Nach zwei Jahrzehnten fuhr ich mal wieder dorthin, um mich an den sagenhaften Pässen zu erproben.

 

Hier geht es los.
Franck vor seinem Geschäft.


Der Camping des Grands Cols ist ein ruhiger Aufenthaltsort und bietet nun am (etwas versteckten) Zugang ein Fahrradgeschäft, Dvélos, das Franck kenntnisreich und zuvorkommend führt. Die kleine Stadt hat sich ganz dem Rennrad verschrieben und sich sogar zur Weltmetropole der Bergradfahrer ausgerufen, wie es stolz auf einem Transparent am Bürgermeisteramts steht.

 

Auf dem Campingplatz: Einladung auf die Berge
Das heißt: Weltmetropole der Bergradfahrer


Das Rennrad gehört zur Identität von St. Jean-de-Maurienne, macht sie aus und ist überall dort und in den Nachbargemeinden auf Bildern und Schildern vertreten. Häufige Begleitung: das weiße Bergtrikot der Tour mit seinen roten Punkten. Du bist am richtigen Platz!

 

Sogar am Kulturzentrum von Pontamafrey: das Rennrad.






 

Gleich am Tag nach meiner Ankunft fuhr ich los zum Galibier, mit 2642 Metern das Dach der Tour in den französischen Alpen. Respekt hat man schon, vor allem wenn man den Berg vor 23 Jahren einmal gefahren ist, in der Blüte der Jugend. Ich wusste gar nicht mehr, was ich in „Radsport furios“ darüber geschrieben hatte … und schlage nach. 1911 wurde der Alpenriese ins Tour-Programm aufgenommen, und Gustave Garrigou war empört und schrie den Offiziellen auf dem Gipfel zu: „Ihr seid Banditen!“ Damals waren die Straßen staubig und wurden im Regen schlammig, und Eugène Christophe, der 1912 als Erster oben war, nannte die Stunden am Berg „Zwangsarbeit“.

 

Hänge und Wolken.


Heute würde man nur von Schwerarbeit sprechen, die Straße ist gut, der Anstieg zum Col du Telégraphe angenehm, dann kommen die ersten Serpentinen, und nach ein paar harten Kehren, angeschmiegt an den Fels (was mag sich da in den letzten 100 Jahren abgespielt haben!), folgt ein langes, nicht endend wollendes Stück, das wie eben wirkt (falso piano!), aber 8 Prozent Steigung aufweist. Das zieht einem zuverlässig die Energie aus dem Körper, und dann geht es am Tunnel der Autostraße noch einmal steil hoch. Die letzten fünf Kilometer sind hart, ich überholte vorher noch John aus Yorkshire und seinen 11-jährigen Sohn Lucas (auf einem für ihn viel zu großen Rad), die mich dann auf der Passhöhe überspurteten. Ich war perplex und freute mich dann für die beiden. Mit Lucas ließ ich mich fotografieren.

 

Vor dem Telégraphe eine Liebeserklärung vermutlich an Marco Pantani (1971-2004)
Kleines Monument zu Ehren von Pantani, vor dem Galibier


Einer der schönsten Pässe ist der Col de la Croix du Fer, den man von Süden von Bourg d’Oisans erklimmen kann, aber eben auch von St. Jean. Die gewöhnliche Straße war gesperrt, also musste ich zunächst über den Col du Moullard (1650 Meter) und 400 Meter abfahren, bis mich 800 Höhenmeter hinauf zum Col erwarteten. Im letzten Ort kaufte ich mir noch ein Stück beim Bäcker, und dann ging es hoch.

 

 

Der letzte Ort vor dem Croix du Fer.
Radler mit Kühen unterwegs zum Croix du Fer.


Fehlten noch 4 Kilometer mit 300 Höhenmetern, das schien kein Problem, man sah die Begrenzungspfosten, die hinaufführten, doch dieser Anstieg ist fordernd und heiß unter der sengenden Sonne, und dann fehlen noch 2 Kilometer, die einem wieder einmal endlos vorkommen, bis einen zwei Dutzend andere Rennradler auf dem Pass erwarten. Oben zu sein, machte einen froh, auch weil ein Fahrer einem die Sorge nahm, man müsste vielleicht noch weit hinunter, um den Col du Glandon zu erklimmen. Nein! 50 Höhenmeter hinunter, dann wieder hinauf, und man ist da. Das Wetter sah gut aus – am Abend zuvor hatte es in St. Jean geschüttet wie aus Kannen, die Wolken waren vom Galibier gekommen; überhaupt regnete es jeden Abend ?, und die Abfahrt hinunter nach La Chambre war ein Genuss.

 



Das Eisenkreuz, das dem Pass den Namen gab.


Blieb noch der Madeleine. Da gab es hinter Notre Dame de Cruet eine kleine Passstraße hinauf mit wenig Verkehr, die in die große Straße einmündete, und die letzten 4 Kilometer sind flach und laden fast zum Spurt ein. Auch die Abfahrt vom Madeleine ist ein Vergnügen, die Straße breit und der Verkehr mäßig, man kann es laufenlassen und ist schnell wieder in La Chambre.

 

Das Panorama.


Auch dieser Pass ist oft im Programm der Tour de France und wurde 2018 von der anderen Seite befahren, und dabei sei noch am Rande erwähnt, dass für die Profis ein Pass nichts ist, sie haben an einem Tag immer mehrere im Programm und machen etwa nach dem Croix du Fer noch Alpe d’Huez …

 

Ich traf am Campingplatz Andrea aus Cuneo, der am Tag nach mir die Croix-du-Fer-Runde fuhr und dann auch noch den Madeleine anhängte. Andrea freilich war jung, vielleicht wie ich damals am Madeleine (39 Jahre).

Alt hingegen war Jean-Claude, den ich am Col du Chaussy traf. Ein Rennradfahrer von 78 Jahren, der ruhig hochfuhr und den ich dann drei Tage später zufällig in Richtung Madeleine wiedertraf. Er besitzt ein Haus in St. Francois und kommt im Sommer zum Radeln, im Winter zum Skifahren hierher. Und auf dem Croix du Fer trieb sich ein 75-Jähriger herum, der offenbar unermüdlich die Berge befuhr. Das mag jungen Fahrern nichts bedeuten, aber wenn man die 60 überschritten hat wie ich, sieht man noch eine nicht unendliche, aber doch leuchtende Zukunft vor sich.

 

Oben auf dem Madeleine.
Andrea aus Cuneo
Jean-Claude, 78 Jahre alt


Nachwort

Passfahren ist eine schöne Leidenschaft, aber nichts Existenzielles. Man sitzt in St. Jean-de-Maurienne, staunt die Berge ringsum an, auf denen man war und fühlt sich gut. Man hatte sein privates Vergnügen. Viele Rennradfahrer sieht man in dem Ort. Es macht einfach Spaß. Wir arbeiten an unserer persönlichen Vervollkommnung.

 

Aber denken wir uns ein paar Jahrhunderte zurück.

Jemand ist in St. Jean geboren und hat vielleicht von seinem Vater gelernt, Körbe zu flechten oder Fässer für den Wein herzustellen. Der Bedarf dafür ist mäßig, der Mann will Geld verdienen, weil er leben muss und eine Frau und Kinder hat. Er hört und man weiß, dass hinter den Bergen weitere Täler liegen. Könnte man da Fässer verkaufen? Wo kommt man gut über den Berg?

 

Irgendwann einmal werden sie angefangen haben, einen Weg zu bahnen, vielleicht hinauf zum und über den Madeleine, der ist nicht steil. Hat ja schon Hannibal mit seinen Elefanten die Alpen überquert. Hindernisse sind dazu da, überwunden zu werden. Man besteige den Berg, weil er da sei, sagte einmal ganz lapidar ein Alpinist, und viele sagten’s ihm nach.

Und so, nach Mühen, gelangt der Mann mit Maultier und vier Fässern hinauf und hinunter und erreicht das Nachbartal. Verkauft seine Fässer. Andere Bewohner folgen. Die Fremden sind begehrt und werden angestaunt, sie wissen andere Dinge, man erfährt Dinge aus dem benachbarten Tal. Der Pass war die Öffnung zu einer anderen Welt. Ehen wurden geschlossen und der Gen-Pool damit aufgefrischt. Man erfuhr von neuen Gebräuchen, beschickte Jahrmärkte, veranstaltete gemeinsame Feiern. Na ja, es kamen auch mal Trupps von Soldaten ins Tal, machten alle nieder und holten sich, was sie kriegen konnten, und im Kongo mag das heute noch so sein.

 

Bergweltimpressionen (hier Wallis)
Fotos Giovanna Braghetti)


 

 

Gut, in unseren Zeiten zu leben! Wir tun niemandem weh, betreiben sanften Tourismus, reden mit den Einheimischen, wenn wir Französisch können und hoffen, dass uns das Wetter am nächsten Berg gewogen ist. Wir machen Erfahrungen mit uns selbst, doch es bleibt Urlaubsepisode. Wir sind cool, stellen ein paar Fotos auf Facebook und schauen nach, ob uns jemand geschrieben hat.

 

Francesco Petrarca will am 26. April 1336 den Mont Ventoux bestiegen haben. Das kann man nicht beweisen und auch nicht widerlegen. In seinem Brief über die Bergtour schreibt er betroffen über die „Sterblichen“, dass „sie ihr edelst Teil vernachlässigend sich über so vieles verbreiten und an leerem Schauspiel ereiteln, wie sie das, was im Innern zu finden ist, äußerlich suchen“. Damit meinte er bestimmt nicht den Drang, auf Berge zu steigen, denn uns selbst finden wir ja nur in der Begegnung mit der Welt und mit Menschen, wenn wir uns nicht meditierend zurückziehen wollen.

Petrarca meinte gewiss Geldgier und Ruhmsucht, damals wie heute verbreitet, und bewunderte „die edle Anlage unsers Geistes, der nur leider aus freiem Willen entartet, von seinem primitiven Gehalt abgewichen ist und das, was ihm Gott zu seiner Ehre verliehen, ins Gegenteil verwandelt hat.“ Das kann man unterschreiben.

Wir waren auf uns zurückgeworfen, haben mit uns gerungen, waren die Könige der Welt, umfangen von der Größe der Natur … und dann empfängt uns unten das Geplapper und die Banalität der Welt, die äußerlich – im Konsum – sucht, was nur im Innern zu finden ist. Davon müssen wir uns fernhalten und an den Pass denken, über den der Wind die Wolken treibt.

 

 

Unten im Tal, eine andere Welt.
(Foto Giovanna Braghetti)


 

&copy Text und Fotos Manfred Poser, August 2018


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