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Radlerprosa



etc. PP - Posers Prosa

Ernstes, Lustiges, Skurriles von Radsportfan Manfred Poser - <a href="http://manipogo.de/">manipogo</a>



Kleine Pilgerfahrt



Wenn das Wetter eine Woche superheiß zu werden verspricht (oder droht), kann man sich zu Hause mit einem Eiskübel, Esswaren und Trinkbarem verkriechen … oder sein Fahrrad satteln und losfahren. Ich entschied mich für die zweite Alternative, da ich radelnd hoffte, meinen seelischen Akku wieder aufladen zu können und eine Radtour kalte Getränke (Bier) nicht ausschließt, das nach 50 Kilometern bei 30 Grad schmeckt wie ein Paradiesgetränk.

 

Also bin ich Montag früh mit meinem 21 Jahre alten „Rudirad“ losgefahren, der den Helden in dem Buch „Mörderisches Rom“ durch die Ewige Stadt trägt. Ich folgte in Mulhouse (Mülhausen/Elsass) dem Rhein-Rhône-Kanal in Richtung Westsüdwest, der an beiden Seiten von einem Radweg begleitet wird. Die Strecke war ziemlich leer, da das Wochenende vorüber war. In meinem Artikel "Provence - Tout va bien kommt der Kanal schon vor, mit Bildern.



der Rummelplatz von Ile sur le Doubs
Aufmarsch der Feuerwehr zum Feiertag

8.15 Uhr los, um 16 Uhr in Montbéliard, um 17.30 in dem Ort Isle sur le Doubs (Doubs ist ein Fluss), wo ich plötzlich merkte, dass wir uns am Vorabend des größten französischen Feiertags befanden: des vierzehnten Juli! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Um 21 Uhr abends versammelten sich auf der größten Brücke des Ortes Tausende zum für 22 Uhr angekündigten Feuerwerk, das aber um 22.30 Uhr noch auf sich warten ließ. Dann kam es, aber stark!



Madonna in einer Dorfkirche

Auf dem Campingplatz schilderte mir eine Karlsruherin die letzten drei Wochen ihrer Radtour mit ihrem Begleiter: Es sei so heiß gewesen, dass sie sich vorzugsweise in Kirchen aufgehalten hätten. Ein alter Ostdeutscher hatte in vier Wochen mit seinem Rad 1400 Kilometer absolviert auf dem Jakobsweg, dann aber aufgegeben, da es in den Pyrenäen zeitweise an die 50 Grad gehabt habe. Er pries das Fahrrad, ohne das er mich und viele andere nicht kennengelernt hätte; mit dem Auto oder dem Bus sei das nicht möglich. Er lobte die bayerischen Radwege und schimpfte, solche gäbe es in Ostdeutschland nicht; da müsse man es immer mit dem Auto- und Schwerlastverkehr aufnehmen. Kann man das nicht ändern? Wer Radwege baut, wird Touristen haben!

 

Dienstag früh musste es südwärts hoch in die Berge gehen durch verlassene französische Dörfer, die an dem Nationalfeiertag noch verlassener wirkten. (Ein Teilnehmer an Paris-Brest-Paris schrieb einmal, in Frankreich gebe es Dörfer, die aussähen noch wie bei der ersten Austragung des Rennens, 1891.) Keiner feierte, alle schliefen anscheinend. Irgendwo goss mir ein Wirt eine Cola ein und verkaufte mir ein Päckchen Kekse. Es war heiß, aber oft durfte man unter Laubbäumen hindurch bis 30 Kilometer unterhalb von Pontarlier. Dann muss man die Nationalstraße nehmen, und die Franzosen rasen mit ihren Autos. Schon geschwächt, fand ich kurz vor dem Campingplatz noch eine Boulangerie, die jeden Tag offen hatte und die Energie für die letzten zehn Kilometer in Form eines Mandelhörnchens und einer Fanta bereitstellte.

 

Der See, an dem der Platz sich befand, hieß „Saint-Point“. Ein Zeltnachbar hatte ein schweres Motorrad neben sich stehen, die anderen Nachbarn zwei Rennräder mit Gepäckträgern. Es waren, so stellte sich beim Abendessen am Kiosk heraus, ein etwa 65-jähriger gestählter, nicht gestylter Radfahrer aus Paris, der mit seiner 14-jährigen Tochter aus Madagaskar unterwegs war. Die beiden hatten vergangenes Jahr Korsika bereist und wollten dieses Jahr 14 Tage unterwegs sein. In Strassburg hatten sie angefangen, weiter sollte es in die Ardèche gehen. Abends bestaunten wir noch den stillen See, in den die verankerten Boote ihre Schatten warfen.

 

Danach gibt es drei Pässe, die die Hinunterfahrt zu den Gestaden des Genfer Am Mittwoch rollte ich wieder los, den See entlang und über den Morond (300 Höhenmeter) nach Vallorbe; weiter entlang den Lac de Joux, einem verträumten Kleinod mit dunkelblauem Wasser und kaum Touristen.



der schöne Lac de Joux selbst
der Pass vor dem Lac de Joux


Danach gibt es drei Pässe, die die Hinunterfahrt zu den Gestaden des Genfer Sees ermöglichen. Ich entschied mich für den höchsten, den Col du Marchalruz. Da der See auf 1000 Metern über Meer liegt, waren etwa 450 Höhenmeter zu bewältigen, verteilt über 8 Kilometer, also eine fünfprozentige Steigung: angenehm. Das erste Schild verhieß: 300 m Steigung auf 4000 m. Na gut, also 8,5 Prozent. Was dann folgte, wirkte eher wie 11 Prozent, aber was soll’s: den kleinsten Gang rein und an die Arbeit. Jeder Meter ist ein Gewinn, und je steiler, desto eher hat man die 450 Höhenmeter im Sack.

der Col de Marchalruz


Und dann lockt in der Ferne schon der Genfer See, dem man beständig näher rückt. Gland liegt schon am Ufer, Nyon folgt. Und kurz nach Coppet gibt es einen netten kleinen Campingplatz, der, weil wir uns nun in der Schweiz befinden, doppelt so viel kostet wie die französischen (20 Franken). Zwei Mädels vom Supermarkt in Coppet machten mir ein schönes Sandwich, zu dem ich eine Flasche Rosé erstand. Der Campingplatzchef stellte mir ungefragt einen weißen Plastikstuhl hin, und so konnte ich rauchend und trinkend auf den See schauen und, als es dunkel wurde, die blinkenden Lichter des Ufers gegenüber genießen, das übrigens französisches Staatsgebiet ist.



Jorge Luis Borges
Robert Musil
am Friedhof von Clarens, Montreux

Der heiße Donnerstag war Ruhetag, abgesehen von einem Ausflug ins zehn Kilometer entfernte Genf, um die Gräber von toten Schriftstellern auf dem Cimetière du Roi aufzusuchen (Borges und Musil). Abends unterhielt ich mich lange mit Tury aus Trapani, der wie ein Andalusier aussah, im Zelt schlief und sich mit einer Trottinette fortbewegte. Auch er interessierte sich für den Schamanismus und die Leistungen des Geistes. Geheimnisvoll fragte er mich: „Was ist die grösste Energie im Universum?“ Danch griff er mit dem Sinn des Sizilianers für die große Geste nach seinem silbernen Feuerzeug und hielt es mir triumphierend hin. LOVE war da eingeritzt.



Willy

Am nächsten Tag, als ich wieder fortfuhr, verabschiedete ich mich auch von Willi, einem 70-jährigen Gartenfirmabesitzers aus Herzogenaurach, der drei Monate mit Rad und Zelt in der Schweiz, Frankreich und Spanien unterwegs sein wollte. Er wusste auch Bescheid über die Dinge des Lebens, und unvermittelt sagte er zu mir: „Ein Künstler braucht keine Familie, nicht einmal nahe Bezugspersonen. Er hat sein Werk.“ Willi fuhr vor mir nach Genf, ich holte ihn ein und traf ihn dann zwei Stunden später noch einmal in der Stadt; da gab es einen geheimen Magnetismus.



Häusermalerei in Genf:
die Aufklärer

Am Freitag fuhr ich beschleunigt durch Genf und das (französische) Südufer des Sees entlang bis Montreux, wo der Campingplatz von Villeneuve sehr voll war, weil das berühmte Jazzfestival noch lief. Abends bezog sich der Himmel mit Wolken, und am Samstag leerten sie sich als (jedoch nur tröpfelnder) Regen auf die Stadt. Ich besuchte die Gräber von Vladimir Nabokov und Oskar Kokoschka, und dann, nach dem Grab von Graham Greene in Corseaux, wollte ich mit dem Zug aus Vevey heimfahren, da die Wettervorhersage für das Wochenende schlecht war.



Blick von Le Corbusiers Villa auf den See
unten der türkisfarbene See


Doch mir wurde gesagt: weiterfahren! Auf der Straße wollte ich den Friedhof suchen und erspähte einen jüngeren Mann mit schwarzem Anzug – zufällig der Leiter des Museums, zu dem Le Corbusiers zweite gebaute Villa am See geworden war. (Die erste Villa des Architekten, dessen Todestag sich dieses Jahr zum 50. Mal jährt, kannte ich. Sie steht in La-Chaux-de-Fonds.) Der Museumsmann zeigte mir auf seinem Smartphone, dass die Wolken verschwinden und es schön werden würde. Ich fuhr also durch kleine Dörfer hoch und links unter mir leuchtete türkisblau das Wasser des Genfer Sees. Von Moudon aus geht es dann schnurgerade über Payerne zum Murtensee, wo ein wiederum sehr gut belegter Schweizer Campingplatz mich aufnahm.

 

Auch der Sonntag wurde schön: ein Geschenk! Ich konnte meine Runde gegen den Uhrzeigersinn nach Genf mit dem Rad beschließen und schaffte in zwölf Stunden die 160 Kilometer bis zu meinem deutschen Heimatort.

 

Nach Biel und Solothurn und Balsthal muss man über den Hauenstein, dann sind es noch 35 Kilometer nach Basel. Kurze Pause, dann zum Wanderweg am Rhein entlang. Drei Stunden waren es noch. Als ich so dahinstürmte auf dem Ziehweg am Rhein und fast stehend auf den Pedalen mich nach 120 Kilometern rasant vorwärts warf, muss ich ein seltsames Bild von Energie und Willenskraft abgegeben haben, und mir entging nicht, dass manche Wanderer und Zuschauer beiderlei Geschlechts gebannt schienen und mir fast atemlos zusahen, als sähen sie den Kriegsgott Mars selbst. Ich drückte mehr aus als mich selbst, rauschte meinem Finale entgegen und war glücklich. Die Runde von 700 Kilometern Länge war in einer Woche vollendet worden. Ein perfektes Werk.



 

&copy Text und Fotos Manfred Poser, Juli 2015


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