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Text von Renate Franz, auf c4f veröffentlicht im April 2015
Nachdem deutsche Sportler nach dem Zweiten Weltkrieg seit 1952 wieder bei Olympischen Spielen starten durften, gab es jahrelang Streit zwischen Westdeutschland, der Bundesrepublik Deutschland, und Ostdeutschland, der DDR – in der Bundesrepublik damals üblicherweise in Anführungszeichen geschrieben, auch „Sowjetische Besatzungszone“ oder kurz „Zone“ genannt -, wer denn nun seine Sportler zu den Spielen entsenden dürfe. 1955 wurde das NOK der DDR vom IOC als Ostdeutsches NOK provisorisch anerkannt unter der Bedingung, dass beide deutsche NOKs ab den Olympischen Sommerspielen in Melbourne im Jahr 1956 eine gesamtdeutsche Mannschaft aufstellten.
In den folgenden Jahren gab es immer wieder Streit um die Form der Ausscheidungskämpfe sowie um Hymne und später auch um die Fahne, hinter der diese Mannschaft in das jeweilige Stadion einmarschieren solle, was von den genervten internationalen Funktionären als „querelles allemandes“ bezeichnet wurde: Die Deutschen galten als Störenfriede der olympischen Bewegung, die durch sie stark politisiert wurde.(1)
Jürgen Kißner |
Nach dem Bau der Mauer im August 1961 kam es zu den „Düsseldorfer Beschlüssen“, in denen es hieß: „Solange ein normaler Verkehr zwischen der SBZ und Berlin sowie der Bundesrepublik nicht möglich ist, können die Spitzenverbände Genehmigungen zur Durchführung von Sportveranstaltungen in der SBZ und mit Sportgruppen der SBZ in der Bundesrepublik nicht mehr erteilen.“(2) Die Olympiamannschaften sollten von diesen Beschlüssen allerdings davon ausgenommen sein. Erst 1965 wurde der DDR zugestanden, eine eigene Mannschaft zu den nächsten Olympischen Spielen zu entsenden. Beide deutsche Mannschaften sollten unter einer schwarz-rot-goldenen Flagge mit den Olympischen Ringen firmieren, und als ihre Hymne war die „Ode an die Freude“ von Beethoven festgelegt.
1964 mussten ein letztes Mal deutsch-deutsche Ausscheidungswettkämpfe darüber entscheiden, aus welchem Teil Deutschlands Sportler zu den Olympischen Spielen in Tokio entsandt werden sollten. Einer dieser Wettkämpfe fand in Köln statt, und unter den DDR-Radsportlern befand sich auch der 22jährige Jürgen Kißner aus Luckau. Aufgrund seiner „bürgerlichen“ Herkunft war ihm in der DDR die freie Berufswahl, vor allem eine Ausbildung zum Sportlehrer an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig, verwehrt. Er ergriff die Chance zur Flucht, und am 15. September 1964 verließ er das Hotel über den Lastenaufzug, um in Westdeutschland zu bleiben.
Die DDR stellte die Flucht als Entführung dar. Seine Mutter wurde von der Staatssicherheit und der ostdeutschen Sportführung nach Köln entsandt, um ihn zur Rückkehr zu überreden – doch riet sie ihm zum Verbleib im Westen. Kißner: „Nach meiner Flucht hat die Stasi nachts meine Eltern zu Hause abgefangen. Sie wurden sofort getrennt, und meinem Vater wurde mitgeteilt: Mit Ihrem Sohn ist etwas Fürchterliches passiert. Ja, was denn, ist er tot? Nein, es ist schlimmer, er ist abgehauen."(3) In der ostdeutschen Zeitung „Der Radsportler“ wurde geargwöhnt, dass Kißner mit Absicht abgeworben worden sei: „Und sie kamen zu Dutzenden: Abwerber und Menschenräuber. […] Schließlich gelang den Leuten, die die schmutzigsten Geschäfte betreiben, ihr Plan: Jürgen Kißner wurde ihr Opfer – ‚Der Ostzonen-Vierer wurde zum Platzen gebracht‘, wie sie ungeschminkt ihre geglückte Absicht in Revolverblättern feierten.“(4)
1966 wurde Kißner bundesdeutscher Meister in der Einerverfolgung und startete auch regelmäßig im bundesdeutschen Vierer, mit dem zusammen er 1966 Vize-Weltmeister wurde und 1967 die WM-Bronzemedaille errang. 1968 wurde er Mitglied der bundesdeutschen Mannschaft für die Olympischen Spiele in Mexiko, um dort ebenfalls in der Mannschaftsverfolgung zu starten. Von den lokalen Medien wurde Kißner, der inzwischen in Köln lebte, vor den Olympischen Spielen in zahlreichen Artikeln porträtiert und gefeiert.
Vierer, v.l.nr.: Jürgen Kißner, Udo Hempel, Karl Link, Karlheinz Henrichs |
Bei der Mannschaftsverfolgung kommt es besonders auf das präzise Zusammenspiel aller vier Fahrer an, und gilt deshalb als „Königsdisziplin“: „Was hier an Gleichklang der Bewegungen, an kraftvoll und rhythmisch vollzogener Bein- und Tretarbeit demonstriert wird, ist einsame Klasse.“(5)
Der Bahnvierer unter Trainer Gustav Kilian (der in seinen jungen Jahren erfolgreich Sechstagerennen in den USA gefahren war) war das Flaggschiff des deutschen Radsports, und Kilian wurde wegen seiner Erfolge mit dem Vierer als Trainer verehrt. Der „Gold-Vierer“ war 1962 und 1964 Weltmeister geworden und hatte ebenfalls 1964 die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Tokio gewonnen. Jetzt war die Erwartung in der deutschen Öffentlichkeit groß, dass der deutsche Vierer erneut die Goldmedaille gewinnen müsse.
Jürgen Kißner: „Eigentlich hatten wir uns als Team eingeschworen.“ Sein Mannschaftskamerad Karl Link sieht das anders: „Wir waren nicht ‚eingeschworen‘, wir wollten gewinnen. Jürgen wollte das nie akzeptieren.“ So fehlte es dem deutschen Vierer am „präzisen Zusammenspiel“ schon im Vorfeld: Die Mannschaft hatte zunächst aus Karl Link, Karlheinz Henrichs, Rainer Podlesch und Jürgen Kißner bestanden; in dieser Besetzung waren viele Länderkämpfe gemeinsam bestritten worden. Bei internen Ausscheidungen vor Ort in Mexiko (auf einer für das Straßenrennen abgesperrten Autobahn) stellte sich heraus, dass Kißner nicht in Bestform war, da er die Monate zuvor dem Abschluss seiner Ausbildung zum Sportlehrer und Trainer gewidmet hatte. Daher wurde für ihn von Trainer Kilian der schnellere Fahrer Udo Hempel in das Quartett aufgenommen. Mit Hempel auf der ersten Position fuhr der Vierer im Training Jahresweltbestzeit.
Kißners Frau Karin berichtete später, ihr Mann habe ihr aus Mexiko geschrieben, dass seine Mannschaftskollegen ihn als „einen von drüben“ behandelten und dass es Spannungen gebe, unter denen er sehr leide. Seine Mannschaftskameraden würden kaum mit ihm sprechen und auch nicht mit ihm gemeinsam essen; mit Henrichs gab es lautstarke Auseinandersetzungen. Udo Hempel: „Nach meiner Erinnerungen bestanden die Spannungen hauptsächlich zwischen Henrichs und Kißner.“
Rainer Podlesch verletzte sich im Viertelfinale bei einem Sturz schwer (er hatte einen dicken Holzspan der Radrennbahn im Bein), so dass Kißner wieder in die Mannschaft rückte. Da er aber eben nicht in Bestform war, wurde abgesprochen, dass er in der vorletzten Runde aus dem Rennen ausscheiden sollte – in der Mannschaftsverfolgung müssen nur drei Fahrer ins Ziel kommen. Diese Taktik verfolgte das Team wie abgesprochen im Halbfinale gegen Italien, das als „vorgezogenes Finale“ galt; der deutsche Vierer fuhr dennoch einen neuen Weltrekord mit 4:15,75 Minuten.
Der Vierer: (v.l.n.r.) Jürgen Kißner, Gustav Kilian, Karlheinz Henrichs, Karl Link, Udo Hempel |
Im Finallauf um die Goldmedaille am 21. Oktober 1968 fuhr die deutsche Mannschaft gegen das Team von Dänemark. Jürgen Kißner: „Das war die sicherste Goldmedaille, die wir haben konnten, wir fuhren wie im Wahn.“ Der deutsche Vierer führte zu Beginn der letzten Runde, und die deutschen Fahrer konnten den dänischen Vierer schon vor sich sehen. Kissner erinnert sich „Henrichs fuhr vorne. Aber anstatt wie abgesprochen Anfang der Kurve abzulösen, fuhr er weiter bis zur Glocke der letzten Runde und fuhr dann erst hoch. Ich stand voll im Wind und war total kaputt.“ Henrichs war länger vorne gefahren als abgesprochen und zudem extrem schnell, dann hatte er sich verausgabt und wollte ausscheiden. Hempel: „Henrichs war egoistisch, er wollte immer zeigen, dass er der Beste sei.“
der entscheidende Moment |
Als Hempel und Link jedoch merkten, dass auch Kißner nicht mehr konnte, überholten sie ihn, ein ungewöhnlicher Vorgang. Kißner: „Ich habe versucht am Hinterrad zu bleiben. Link brüllte zu Henrichs: ‚Komm runter.‘ Was er dann tat, er kam von oben runter und ich hielt im Reflex die Hand raus, weil ich dachte, der fährt in mich rein.“ Der deutsche Vierer beendet den Lauf mit rund vier Sekunden Vorsprung auf den dänischen.
Der Sportjournalist Jo Viellvoye schrieb damals in der westdeutschen „Sport-Illustrierten“: „Am Bahnrand standen die Rennkommissare, ahndeten diesen Klaps als Stoßen und zogen das Reglement herbei, wo geschrieben steht: ‚Das Abstoßen unter den Fahrern der Mannschaft ist bei Strafe der Disqualifikation strikt untersagt.‘ Die Tatsache, dass der deutsche Vierer uneinholbar vorne lag, zählte nicht. (6)
Der deutsche Vierer wurde disqualifiziert und diese Disqualifikation nach einem Protest durch die westdeutsche Mannschaftsleitung von der Jury d’Appell bestätigt. Der heutige UCI-Kommissär Alexander Donike: „Die damalige Entscheidung war richtig.“ Regelwidrig war aber sicherlich die Entscheidung, der deutschen Mannschaft nicht einmal die Silbermedaille zugestehen zu wollen, denn schließlich hatte sie schon im Finale gestanden. Als man der italienischen Mannschaft die Silbermedaille antrug, lehnte diese ab. Der italienische Fahrer Cipriano Cemello, damaliges Mitglied des italienischen Vierers: „Signor Costa, der italienische Bahntrainer, kam zu uns und sagte, wenn dem Antrag stattgegeben werde, könnten wir den zweiten Platz haben, aber ich habe meine Meinung deutlich gemacht, dass selbst wenn geschoben wurde, der Vorsprung so offensichtlich war, dass die Deutschen gewonnen hätten.“(7) So kam es, dass bei der Siegerehrung unter Pfiffen des Publikums die deutsche Mannschaft auf dem Podium fehlte.
Der Vorfall erregte die Gemüter der halben deutschen Nation, namentlich der „BRD“. Während sich die Sportmedien in der westlichen Welt hauptsächlich mit dem „Black Power“-Protest der Leichtathleten Tommie Smith und John Carlos beschäftigten sowie sich über den Flosbury-Flop und Bob Beamons weiten Sprung wunderten, waren die bundesdeutschen Medien mit diesem – in ihren Augen – „Skandal“ beschäftigt: ein sportpolitisches Ereignis aus der Zeit des Kalten Krieges.
Jürgen Gallinge |
Mitglied im dreiköpfigen Schiedsgericht war der DDR-Sportfunktionär Jürgen Gallinge. Die Entscheidung für die Disqualifikation fiel mit 2:1 Stimmen, Gallinge votierte gemeinsam mit dem italienischen Vertreter gegen den der Schweiz. Der italienische Bahntrainer Guido Costa berichtete später, er sei dabei gewesen, als Gallinge gesagt habe „Die Deutschen (!) müssen disqualifiziert werden“, er sei der entscheidende Mann gewesen.(8) Es wurden Vermutungen laut, der italienische Schiedsrichter habe für die Disqualifikation gestimmt, um seiner eigenen Mannschaft die Silbermedaille zuzuschanzen.
Die Jury d’Appell, die nächste Instanz, bestand aus fünf Männern, darunter wiederum ein Ostdeutscher und ein Italiener, sowie ein Pole, ein Franzose und ein Belgier. Der Ostdeutsche war Heinz Dietrich, Generalsekretär des DDR-Radsportverbandes, und er war Leiter der Mannschaft gewesen, aus der Kißner sich 1964 entfernt hatte. Da lag aus Sicht der Westdeutschen der Verdacht nahe, dass es sich bei dieser Entscheidung um einen „Racheakt“ handelte. Hinzu kam, dass bei den UCI-Bahn-Weltmeisterschaften in Amsterdam im Jahr zuvor der DDR-Vierer seinerseits disqualifiziert worden war, weil ein Fahrer aus der Mannschaft einen Kollegen angeschoben hatte. Auf diese Entscheidung berief sich Gallinge. Die endgültige Entscheidung über die Vergabe der Medaille wurde allerdings verschoben, da der Schweizer Schiedsrichter Claude Jacquat darauf bestand.
Es schien als seltsamer Umstand, dass die DDR bei ihrer ersten offiziellen Teilnahme an Olympischen Spielen zwei Funktionäre in den Schiedsgerichten entsenden durfte, während die Westdeutschen in diesen Gremien überhaupt nicht vertreten waren. Hintergrund war, dass die Gremien im Radsport bei den Olympischen Spielen vom Internationalen Amateur-Radsportverband (FIAC), einem damaligen Unterverband des Weltradsportverbandes UCI, gestellt wurden, in denen die DDR-Funktionäre generell stark vertreten waren. „So entschieden Ost-Berliner Richter über das sportliche Schicksal eines Mannes, den sie Verräter schimpften“, schrieb die NRZ.(9)
Mannschaftsführer Heinz Ewert war der Meinung: „Es war überhaupt kein Regelverstoß, Kißner hat nur den von oben kommenden Henrichs in einer Reflexreaktion berührt, weil er einen Zusammenstoß fürchtete. Das Reglement aber stellt nur eine ‚Poussette‘ unter Disqualifikationsstrafe, das heißt, eine Tempo fördernde Beschleunigung.“(10) Der Trainer Gustav Kilian nannte die Entscheidung der Jury „den größten Betrug aller Zeiten“. Auch er betonte, Kißner habe die Hand zum Schutz vor einem Zusammenstoß erhoben.(11)
Der Sportjournalist Jo Viellvoye kritisierte die westdeutsche Mannschaftsleitung scharf: „Ein Königreich jetzt für einen souveränen, sachkundigen, geschickten Funktionär. […] Nur von ‚poussette‘ ist hier die Rede, nicht von ‚touchement‘. Dieser entscheidende Unterschied ist die einzige Chance der Deutschen. Doch sie nutzen sie nicht. Es fehlt ihnen an Persönlichkeit, an Sprachbegabung, an Überzeugungskraft."(12)
Der französische Journalist Jacques Marchand schrieb in „L’Equipe“: „Das war keine sportliche, sondern eine politische Entscheidung. Kissner hat Henrichs nicht abgestoßen, sondern ihm lediglich einen Klaps gegeben, als wolle er sagen: ‚Allez, du bist dran. Mach’s gut.‘ Aber Kissner ist vor vier Jahren aus Ostdeutschland geflohen, und der zuständige Kommissär stammte wohl ebenfalls aus Ostdeutschland. Sowohl diese Entscheidung und noch viel mehr der Jurybeschluß, den Deutschen nicht einmal die Silbermedaille zu geben, obwohl sie regulär gewonnen hatten, verdeutlicht wieder einmal die Unfähigkeit der UCI-Funktionäre. Wenn ich dänischer Radsport-Präsident wäre, dann hätte ich die Goldmedaillen nicht angenommen, weil sie mir nicht gehören.“(13)
Ein dänischer Journalist, dessen Landsleute ja immerhin von der Entscheidung profitiert hatten, schrieb: „Die korrumpiertesten Funktionäre, die es in irgendeinem Fachverband gibt, haben zum erstenmal einem kleinen Land zum Olympiasieg verholfen.“(14)
Ein deutscher Berichterstatter war der Meinung, die Ostberliner Funktionäre hätten nur darauf gewartet, „bei guter oder auch unguter Gelegenheit ein Exempel zu Lasten der Bundesdeutschen zu statuieren“.(15)
Bei einer Pressekonferenz wurde Mannschaftsleiter Ewert von den Journalisten heftig kritisiert, weil er im Vorfeld nicht gegen die Zusammensetzung von Kampfgericht und Jury mit jeweils einem DDR-Vertreter protestiert habe. Ausschlaggebend sei schließlich die Entscheidung von Gallinge gewesen, hinter Kißners Handbewegung nicht eine „belanglose Berührung“ zu sehen, sondern eine „Poussette“, also ein Anschieben. In einem Kommentar war zu lesen: „Wo es jedoch der internationalen Föderation an Fingerspitzengefühl fehlte, gebrach es der Führung des Bundes Deutscher Radfahrer an Sorgfaltspflicht. In Kontaktgesprächen und notfalls eben durch einen offiziellen Protest vor Beginn des Finales hätte der Bund Deutscher Radfahrer alles nur Erdenkliche tun müssen, um zu verhindern, daß Ostberliner Funktionäre das sportliche Schicksal eines Mannes entscheiden, den sie Verräter und Schlimmeres schimpfen. Die Oberflächlichkeit, mit der bundesdeutsche Sportführer aber meist sportpolitische Hintergründe betrachten, ließ den Gedanken an den vorsorglichen Schutz des Jürgen Kissner und seiner Kameraden gar nicht erst aufkommen.“(16)
Bei der Frau von Jürgen Kißner, Karin Kißner, stand anschließend das Telefon nicht still, sie wurde bedroht und beschimpft. Kißner sei ein Spion, der die Goldmedaille absichtlich „verschachert“ habe, ein Betrüger, eine Verräter, ein Zonenschwein.(17) Kißner selbst war nach der Disqualifikation am Boden zerstört: „Ich bin die Pfeife der Nation.“(18)
Schlagzeilen in „Express“ und "Bild" |
Die Schlagzeile der „Bild-Zeitung“ lautete: „Rad-Vierer um Gold betrogen“.(19) Heinz Dietrich, der zweite Schiedsrichter aus der DDR, war immerhin Leiter der Delegation in Köln gewesen, aus der sich Kißner entfernt hatte, und zudem Generalsekretär des DDR-Radsportverbandes. Für die „Bild-Zeitung“ war daher klar: „Das war die Rache für Köln“. Und sie warf den Funktionären der UCI vor, von der DDR-Sportleitung durch Einladungen und Geschenke gefügig gemacht worden zu sein; der UCI-Präsident Adriano Rodoni zeigte in der Tat eine große Vorliebe für die sportlichen Amateur-Aktivitäten der DDR und sah gnädig über den unklaren Status der „Staatsamateure“ hinweg.“(19) In der „Kölnischen Rundschau“ wurde von der „ideologisch gezüchteten Eifersucht jedes Ostberliner Funktionärs auf bundesdeutsche Medaillengewinne“ gesprochen.(20)
Im ostdeutschen „Sport-Echo“ mokierte man sich über die Reaktion der westdeutschen Funktionäre und der Berichterstattung: „Die alte Dolchstoßlegende in neuem Gewand. Eine zugegebenermaßen bittere Pille verwandelt sich in das Gift des Chauvinismus, das der aggressive deutsche Imperialismus stets in seinem Arsenal hatte.“(21)
Erst im November 1968 entschied die FIAC, dass der westdeutsche Vierer immerhin die Silbermedaille erhalten solle. Dabei ergab die Abstimmung 9:5 Stimmen, wobei die Sowjetuntion und die DDR dagegen stimmten. Die Übergabe der Medaillen erfolgte nachträglich im Rahmen der Querfeldein-Weltmeisterschaften im Februar 1969 in Magstadt.(22)
Jürgen Kißner wurde nach den Olympischen Spielen von seinen ehemaligen Kameraden gemieden; der Vierer fuhr in dieser Zusammensetzung nie mehr miteinander. Eine öffentliche Aussöhnung der Mannschaft im Fernsehen misslang. Kißner beendete anschließend seine Laufbahn als Leistungssportler. Er arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Lehrer für Sport und Biologie an einer Schule in Köln, engagierte sich für den Radsport als Lehrfach an der Deutschen Sporthochschule in Köln und ist bis heute als Betreuer des Bahnradsport-Nachwuchses tätig. Über den Verlust der sicher geglaubten Goldmedaille, den er angeblich zu verantworten hatte, kam er niemals hinweg. Udo Hempel bekam noch seine Goldmedaille in der Mannschaftsverfolgung mit drei anderen Partnern bei den Olympischen Spielen 1972 in München; einer seiner Betreuer war Karl Link, der inzwischen auch Trainer geworden war. Ironischerweise durfte die DDR bei diesen Olympischen Spielen in Westdeutschland erstmals mit eigener Mannschaft, eigener Hymne und eigener Fahne antreten.
Jürgen Gallinge war auch nach der Wende weiterhin als internationaler Kampfrichter tätig, trotz heftigen Protestes von BDR-Funktionären. Der Sportjournalist Helmer Boelsen traf ihn bei einer Tour de France: „Gleich ging er in Verteidigungsposition: ‚Ich war das doch gar nicht damals. Das waren der Schweizer und der Holländer, die das Vergehen angezeigt haben.‘ Schwer zu glauben. Und schon gar nicht von Gustav Kilian. Der nannte Gallinge nur den ‚Golddieb!‘ [...]“ (25) Kilian konnte den Verlust dieser Goldmedaille niemals verwinden. In einem Fernsehinterview 30 Jahre später gratulierte ihm der Journalist zu 16 Goldmedaillen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften, doch Kilian erwiderte nur grantig: „Es hätten 17 sein können“.
Karl Link, Udo Hempel, Jürgen Kißner in der Sporthochschule Köln anlässlich der Veranstaltung „Radsport früher und heute“ (Foto: Renate Franz) |
– 45 Jahre Radsport an der DSHS zum 70. Geburtstag von Jürgen Kißner |
Renate Franz führte Interviews mit Jürgen Kißner, Karl Link, Udo Hempel und Alexander Donike. Besonderer Dank gilt Friedrich Müggenburg
Bildnachweis: Soweit nicht anders vermerkt, stammen die Bilder aus dem privaten Fundus von Jürgen Kißner.
(1) Willi Ph. Knecht: Konfliktfeld Olympia. Sport im Bannkreis der Politik. Hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Berlin 1980. p. 29
(2) Zitat nach Knecht (1908), p. 38
(3) www.zov-sportverraeter.de/ausstellung/auf-der-flucht/juergen-kissner/
(4) Der Radsportler, 29. September 1964
(5) Werner Scharch: Faszination des Bahnradrennsports. Teningen 1977. S. 176
(6) Jo Viellvoye: „Die verwünschten 4000 Meter“. In: Sport-Illustrierte. Sonderheft „Das war Mexiko“ v. 29. Oktober 1968
(7) Email von Cipriano Cemello. 25. Januar 2013 (Sprache etwas angeglichen)
(8) Karl-Hermann Zobel: „‘Der größte Betrug aller Zeiten‘“. Kölnische Rundschau., o.D.
(9) NRZ, 23. Oktober 1968
(10) Kölnische Rundschau, 23. Oktober 1968
(11) Kölnische Rundschau, 23. Oktober 1968
(12) Willi Ph. Knecht: Verschenkter Lorbeer. Deutsche Sportler zwischen Ost und West. Köln 1969. p. 157
(13) Jo Viellvoye: „Die verwünschten 4000 Meter“. In: Sport-Illustrierte. Sonderheft „Das war Mexiko“ v. 29. Oktober 1968
(14) NRZ, 23. Oktober 1968
(15) Kölnische Rundschau, 23. Oktober 1968
(16) Hamburger Abendblatt, 22. Oktober 1968
(17) NRZ, 23. Oktober 1968
(18) Bild-Zeitung, 25. Oktober 1968
(19) Bild-Zeitung, 25. Oktober 1968
(20) Kölnische Rundschau, 23. Oktober 1968
(21) Deutsches Sportecho, 23. Oktober 1968
(22) Brief des Nationalen Olympischen Komitees v. 14. Februar 1969
(23) Boelsen, Helmer: Unter Engeln und Kannibalen : die schönsten Geschichten aus 55 Jahren. Bielefeld 2003. S. 222f.
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