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Historisches rund um den Radsport



1994/1995: Die Ära Gewiss-Ballan

Beitrag von Sven



Selten zuvor gab es in der Radsport-Geschichte ein erfolgreicheres Team als die italienische Equipe Gewiss-Ballan in den Jahren 1994 und 1995. Selten zuvor aber auch gab es ein umstritteneres und mit außerordentlicher Skepsis beäugtes Team wie jenes, das von Emanuele Bombini geführt wurde...



Bombinis Anfänge mit Mecair 1993

1993 betrat ein neues italienisches Profi-Team die Bildfläche: Mecair-Ballan hieß die Mannschaft des bis dato nur im Amateurbereich tätigen sportlichen Leiters Emanuele Bombini. Als Zugpferd der neuen Mannschaft wurde der 33-jährige Moreno Argentin verpflichtet, der sich in den Jahren zuvor als einer der herausragenden Klassikerjäger des Pelotons präsentierte. Zwischen 1985 und 1991 gewann er u.a. viermal Lüttich-Bastogne-Lüttich. Als „alter Haudegen“ sollte er die neue hungrige Mannschaft führen und sie an höhere Aufgaben gewöhnen.

Bereits beim Giro 1993 mischte das Team die Weltelite mächtig auf: Der bereits 32-jährige Lette Pjotr Ugrumov belegte einen sensationellen zweiten Gesamtrang, lediglich 58 Sekunden hinter Miguel Indurain, welcher nur dank seiner Stärke im Einzelzeitfahren seinen zweiten Giro-Sieg nach 1992 festigen konnte. Bombini holte den Letten von der unbedeutenden spanischen Seur-Mannschaft nach Italien, doch niemand rechnete ernsthaft damit, dass Ugrumov das Feld in den steilen Rampen der Dolomiten so dominieren würde und damit Indurain in Bedrängnis bringen könnte. Argentin selbst trug bei jenem Giro neun Etappen lang das Maglia Rosa, bevor er es nach dem Einzelzeitfahren von Senigallia an Indurain verlor. In der Schlussabrechnung konnte er dennoch einen für sein hohes Alter beachtlichen sechsten Gesamtrang belegen.

Für das Jahr 1994 bediente sich Bombini aus der Masse der scheidenden Ariostea-Mannschaft und verpflichtete mit Giorgio Furlan, Bruno Cenghialta (beide Italien) sowie dem Dänen Bjarne Riis weitere Hochkaräter. Die Mannschaft startete nun unter dem Namen „Gewiss-Ballan“.

Was dann folgte war eine selten zuvor gesehene Dominanz eines einzigen Profiteams:

Kaum ein Rennen des Frühjahrs bekam nicht den Gewiss-Stempel aufgedrückt. Herausragend dabei Giorgio Furlan, der bei Mailand-San Remo, beim Tirreno-Adriatico und beim Critérium International siegte.

 



Flèche Wallonne 1994: Der legendärste und fragwürdigste Dreifachsieg der Radsport-Geschichte

Bildquelle
Moreno Argentin: Sieger des berüchtigten Flèche Wallonne 1994

youtube:
Fleche Wallonne 1994 (Gewiss EPO Attack)

Besonders eindrucksvoll und aus Sicht der Konkurrenz niederschmetternd war das Ardennen-Double mit dem Flèche Wallonne und Lüttich-Bastogne-Lüttich: In einer Art und Weise, die zum damaligen Zeitpunkt ihresgleichen suchte, setzte sich das Gewiss-Trio Furlan, Moreno Argentin sowie der junge 24-jährige Russe Evgeni Berzin bereits 72(!) Kilometer vor dem Ziel in Huy beim Flèche Wallonne von der Konkurrenz ab. Spielerisch leicht zerfetzten sie das Feld in den Steigungen der Ardennen und liefen dabei nicht annähernd Gefahr, noch einmal von den Kontrahenten eingeholt zu werden. Der Sieger hieß gemäß Bombinis Teamorder Moreno Argentin. Der junge Berzin musste sich mit Platz 3 begnügen, doch sollte er nur Tage später zum großen Schlag ausholen dürfen. Bei Lüttich-Bastogne-Lüttich war kein Kraut gegen die Stärke des Russen gewachsen: Mit einem überragenden Vorsprung von 1:37 Minuten auf Weltmeister Lance Armstrong gewann er den Ardennen-Marathon über 268.5 Kilometer. Seit 1980, als Bernard Hinault das Rennen mit neuneinhalb Minuten Vorsprung auf Hennie Kuiper gewann, gab es nicht mehr einen solchen Abstand zum Zweitplatzierten. Den Triumph der Gewiss-Mannschaft rundete einmal mehr Giorgio Furlan als Dritter ab.



Dopingverdächtigungen allgegenwärtig: Das skandalöse Ferrari-Interview

"EPO an sich ist nicht gefährlich[...]. Es ist genauso gefährlich, zehn Liter Orangensaft zu trinken." Dr. Michele Ferrari, Teamarzt bei Gewiss-Ballan

Teamarzt von Gewiss-Ballan war Dr. Michele Ferrari. Nach dem imposanten Frühjahr 1994 wurden offen Dopingverdächtigungen gegen die Mannschaft und ihren „Dottore“ ausgesprochen. Rasch machte das Schlagwort des Blutdopingmittels "EPO" die Runde, welches zu jenem Zeitpunkt nicht nachweisbar war.

Nach den Triumphen des Frühjahrs gab Ferrari ein vielsagendes Interview für die französische Sportzeitung l’Equipe und dessen Reporter Jean-Michel Rouet:

[…]Rouet: Wenn wir von EPO reden… gebrauchen ihre Fahrer es ?

Ferrari: Ich verschreibe es nicht. Man kann EPO aber bspw. in der Schweiz ohne Rezept kaufen und falls ein Fahrer dies tut, berührt mich das nicht. EPO verändert grundsätzlich nicht die Leistung eines Rennfahrers.

Rouet: In jedem Falle ist EPO gefährlich! Zehn niederländische Fahrer sind in den letzten Jahren gestorben.

Ferrari: EPO an sich ist nicht gefährlich, der Missbrauch ist es. Es ist genauso gefährlich, zehn Liter Orangensaft zu trinken. […]

Quelle: cyclingnews.com, Übersetzung ohne Gewähr: Sven

 

Umgehend nach diesem Interview wurde Ferrari von Gewiss-Ballan entlassen...

 



Giro 1994: Sensationeller Berzin stürzt Miguel Indurain

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Gewiss-Fahrer Vladislav Bobrik beim Giro d'Italia 1995

Nach der Frühjahrs-Saison standen nun die großen Rundfahrten auf dem Programm: Sowohl beim Giro, als auch bei der Tour galt es, den Spanier Miguel Indurain vom Thron zu stürzen. Gespannt waren die Auguren natürlich auch auf die Gewiss-Mannschaft. Niemand jedoch traute ihnen so recht den großen Coup zu, da die Top-Form des Frühjahrs ja nicht über viele Monate anhalten könnte…

Weit gefehlt, denn beim Giro d’Italia setzte Evgeni Berzin dann noch einmal einen drauf: Stark am Berg und schier unschlagbar im Zeitfahren – selbst Indurain, der jahrelang jedes Zeitfahren dominiert hatte, war chancenlos.

Viele wollten nach dem Sieg Berzins beim Giro bereits einen Generationswechsel mitbekommen haben, doch bei der Tour de France, an der Berzin aufgrund des Bombini’schen „Jugendschutzprogramms“ nicht teilnahm, rückte Indurain die Verhältnisse wieder gerade, auch wenn er speziell in der letzten Woche von einem Fahrer geradezu deklassiert wurde: Dieser Fahrer war ein alter Bekannter und kein geringerer als Pjotr Ugrumov von Gewiss-Ballan. Beim Bergzeitfahren nach Avoriaz schenkte Ugrumov dem Spanier 3:16 Minuten ein. Seine Fahrt nach Avoriaz hinauf war die bis heute schnellste aller Zeiten auf der Steigung in diesen Wintersportort. Tags zuvor gewann er auch die Bergetappe nach Cluses und belegte am Ende Rang zwei in der Gesamtwertung. Weitere Gewiss-Highlights dieser Tour waren die Etappensiege von Nicola Minali und Bjarne Riis.

Man konstatierte, dass die Gewiss-Dominanz trotz der Ferrari-Entlassung weiterging…

Bezeichnend war das letzte große Rennen des Jahres 94: Bei der Lombardei-Rundfahrt siegte der Russe Vladislav Bobrik - von Gewiss-Ballan…

 



Verdächtigungen am laufenden Band

Die Verwunderung und das Misstrauen der Öffentlichkeit wuchs jedoch stetig weiter:

Man grübelte über die Explosivität des im Spätherbst seiner Karriere stehenden Ugrumov, der jahrelang zuvor nicht aufgefallen war, man rätselte über Evgeni Berzin, der wie aus dem Nichts die gesamte Klassiker- und Rundfahrten-Weltelite in Grund und Boden fuhr, man fragte sich, wie es sein konnte, dass ein alternder Moreno Argentin die Dolomitenpässe spielerisch leicht wie nie zuvor nehmen konnte, …

Nicht nur die Skeptiker vermuteten ein flächendeckendes EPO-Doping in diesem undurchschaubaren Wald, gerade im Zuge des Ferrari-Interviews…

Jahre später lagen der rückwirkend ermittelnden italienischen Staatsanwaltschaft folgende Zahlen auf dem Tisch:



Hämatokritwerte der Gewiss-Ballan-Fahrer

Fahrer 15. Dezember 1994 24. Mai 1995 Differenz
Bobrik 42,7 53 10,3
Cenghialta 37,2 54,5 <font color="red">17,3</font>
Frattini 46 54 8
Volpi 38,5 52,6 14,1
Gotti 40,7 57 16,3
Furlan 38,8 51 12,2
Minali 41,7 54 12,3
Santaromita 41,4 45 3,6
Ugrumov 42,8 <font color="red">60</font> 17,2
Berzin 41,7 53 11,3
Riis 41,1 56,3 15,2




Diese Zahlen dokumentierten die Hämatokrit-Werte der Gewiss-Ballan-Fahrer zwischen 1994 und 1995. Der natürliche Wert, so sagt man, liegt in der Regel unter 50. Doch selbst wenn sich der Anteil der roten Blutkörperchen auf natürlicher Basis höher als dieser Schwellenwert befindet, sind solche Sprünge wie in dieser Tabelle absolut unnatürlich und daher ein fast eindeutiges Zeichen von Medikamentenmissbrauch – sprich EPO.



Der Individualist Berzin

Zurück zum Sport: Trotz der erfolgreichen Saison 94 hängte Moreno Argentin mit 34 Jahren das Rennrad an den Nagel – 14 Profijahre mit unzähligen Erfolgen waren genug. Dennoch war wohl auch er wenig begeistert von seinem zehn Jahre jüngeren Kollegen Berzin, der nach seinem Giro-Sieg behauptete, dass er das Rennen auch ganz alleine und ohne Mannschaftsunterstützung gewonnen hätte.

Mit diesem Spruch eliminierte sich Berzin gar völlig aus der Teamhierarchie, obgleich er auch schon zuvor mehr Einzelgänger als Mannschaftskämpfer darstellte. Insbesondere die Co-Kapitäne wie Pjotr Ugrumov und Bjarne Riis waren wenig freundlich auf den Emporkömmling zu sprechen. Teamchef Bombini allerdings wollte öffentlich von teaminternen Zwistigkeiten nichts wissen – zu wertvoll war sein Rohdiamant Berzin, mit dem er glaubte, den Griff nach den Sternen getätigt zu haben.

 

Das Frühjahr 1995 lief zwar zufrieden stellend, aber nicht annähernd so erfolgreich wie im Jahr zuvor. Zwar heimsten Gewiss-Fahrer bei kleineren Rundfahrten wie der Bicicleta Vasca oder der Katalanischen Woche noch reihenweise Siege ein, konnten aber speziell in der großen Klassikern nicht an die Erfolge des Vorjahres anknüpfen.

Bombini allerdings grämte dies nicht, legte er sein Augenmerk doch hauptsächlich auf die großen Rundfahrten mit Giro d’Italia und Tour de France. Das Jahr 1995 sollte DAS Jahr des Evgeni Berzin werden, wurde er doch zum ersten Male ins Abenteuer Tour de France geschickt. Zunächst allerdings stand der Giro an, und mit der Doppelspitze Berzin/Ugrumov hatte Bombini zwei Eisen für den Gesamtsieg im Feuer. Der Hauptkonkurrent hieß nicht wie im Vorjahr Miguel Indurain, sondern Tony Rominger aus der Schweiz, der auch gleich zu Beginn das „maglia rosa“ übernahm. Ausziehen sollte er es bis zum Schluss nicht mehr, was selbstredend nicht im Interesse von Bombini war. Seine Fahrer hatten es schlichtweg „verbockt“: Weder Berzin, noch Ugrumov waren in der Lage, gemeinsame Sache gegen Rominger zu machen. Stattdessen waren sie nur darauf bedacht, dem anderen den Schneid abzukaufen. Ständiges Belauern und gegenseitiges Attackieren hatte für Rominger ein leichtes Spiel zur Folge. Bombini musste konstatieren, dass die Kluften innerhalb des Teams zu groß waren: Berzin hatte keine Freunde, und auch Ugrumov war sich zu schade, für das „enfant terrible“ zu fahren. So belegte Berzin am Ende Rang zwei, Ugrumov Rang drei…

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Evgeni Berzin


Das Gewiss-Ballan-Team fällt auseinander

Die Tour de France 1995 wurde zu einer großen Enttäuschung: Zwar begann alles nach Plan mit dem Sieg im Mannschaftszeitfahren von Alencon, bei dem die Gewiss-Mannschaft eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 54,930 km/h auf 67 Kilometern erzielte. Dies ist bis zum heutigen Tage das schnellste Mannschaftszeitfahren aller Zeiten. Nach dem Teamzeitfahren übernahm mit Ivan Gotti auch ein Gewiss-Mann das Gelbe Trikot. Die erste Bergetappe nach La Plagne wurde für Berzin zum Desaster: Er verlor 25 Minuten auf Tagessieger Alex Zülle und damit alle Hoffnungen auf einen vorderen Platz in Paris. Die Enttäuschung im Gewiss-Lager war groß und konnte auch damit nicht unterdrückt werden, dass Bjarne Riis am Ende der Tour in Paris als Dritter auf das Podest klettern durfte und Ivan Gotti Fünfter der Gesamtwertung wurde.

 

Trotz der ernüchternden Tour-Premiere Berzins verlor Bombini nicht die Geduld mit seinem Schützling, im Gegenteil – er vertraute weiter vollends in die Fähigkeiten und das Talent des jungen Russen und „opferte“ somit die alten Hasen Ugrumov und Riis, die neben Berzin keinen Platz mehr für sich im Gewiss-Team sahen.

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Pjotr Ugrumov beim Giro 95 zusammen mit Heinz Imboden, Claudio Chiappucci und Tony Rominger


Thrombose bei Furlan und „the never ending doping-story“

„Ich habe den Fahrern kein EPO gegeben. Das haben sie selbst nach Absprache mit den Ärzten getan." Gewiss-Masseur Paulo Ganzerli nach der Dänemark-Rundfahrt 1995

Was trieb eigentlich Giorgio Furlan, der im Vorjahr noch bei Eintagesrennen und kleineren Rundfahrten wie kaum ein anderer geglänzt hatte? Eines der wenigen Ausrufezeichen setzte er bei der Meisterschaft von Zürich, als er nur knapp von Johan Museeuw und Gianni Bugno bezwungen wurde. Es war auch eines der letzten Ausrufezeichen der Gewiss-Ballan-Ära...

Giorgio Furlan selbst, einer der Protagonisten dieser Ära, musste seine Karriere aufgrund einer Thrombose am Bein beenden. Nicht nur Spötter vermuteten ketzerisch, dass sich dahinter der EPO-Teufel verbarg...

Den Begriff „Doping“ in Einklang mit der Gewiss-Ballan-Mannschaft zu bringen, fiel angesichts der Fülle an Auffälligkeiten nicht wirklich schwer. Während der Dänemark-Rundfahrt 1995 (Sieger: Bjarne Riis von Gewiss-Ballan) durchwühlten dänische TV-Journalisten den Mülleimer des Gewiss-Masseurs Paulo Ganzerli. Resultat war der Fund von leeren EPO-Ampullen. Ganzerli selbst dazu: „Ich habe den Fahrern kein EPO gegeben. Das haben sie selbst nach Absprache mit den Ärzten getan“.

Zu den Journalisten gehörte u.a. Nils Christian Jung, der noch bis 1995 als Masseur bei Gewiss tätig war…

1996 startete die Mannschaft unter dem Namen Gewiss-Playbus: Die Erfolge ließen mehr und mehr nach. Gerade auch Evgeni Berzin konnte die hochgesteckten Erwartungen niemals wieder auch nur annähernd erfüllen. Manche, so zum Beispiel Teamchef Bombini, meinten, es läge an der Lebenseinstellung Berzins, der mit dem raschen Ruhm nicht zurechtgekommen sei – andere wiederum vermuteten, es läge daran, dass die anderen Teams in Sachen Doping „nachgezogen“ hätten. Bjarne Riis gewann übrigens 1996 in den Farben des Teams Deutsche Telekom die Tour de France…



Teamzusammensetzung und Ergebnisse

Die Teamzusammensetzung von Gewiss-Ballan 1994 und 95 sowie alle Erfolge beider Jahre findet ihr hier.


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