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Vollblutrennfahrer

Titel: Vollblutrennfahrer
Meine zwei Leben als Radprofi
Autor: David Millar
Layout:Broschur, 408 Seiten + Fotostrecken
Verlag: covadonga, Juni 2012
ISBN: 978-3-936973-71-6
Preis: 16,80 Euro


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David Millars Biografie ist spannend und sehr empfehlenswert. Gleichwohl wünschte ich, dass mir jemand einen Tipp gegeben hätte, bevor ich „Vollblutrennfahrer“ aufschlug und mit dem Lesen begann. Bei diesem Tipp hätte es sich um eine Art „Gebrauchsanweisung“ im Umgang mit Millarschen Gedanken und Gefühlschilderungen handeln müssen, die mir bei der Lektüre einige Schwierigkeiten bereiteten. Verantwortlich dafür ist David Millar in eigener Person, da er seine Biografie selbst geschrieben hat und Co-Autor Jeremy Whittle, seines Zeichens Journalist, ihm wohl nur „glättend“ zur Seite stand. Ich gehe zwar nicht davon aus, dass sich diese Schwierigkeiten für jeden Leser einstellen werden, jedoch bestimmt nicht nur bei wenigen. Ich beschränke mich hier auf diesen Ratschlag und will zunächst sagen, worin meine Probleme bestanden.

 

Widersprüchlichkeiten

Während seiner Dopingsperre entschied sich David Millar als „sauberer“ Fahrer in den Radsport zurückzukehren. „Wenn auch sonst nichts, so könnte ich bei meiner Rückkehr in den Rennsport der väterliche Freund sein, ein Ansprechpartner für die anderen – der gefallene Champion, der aktiv gegen Doping einsteht und sich nicht scheut, aufzustehen und über den sauberen Sport zu reden.“

 

Seine Rückkehr erfolgte 2006 indes für das „fragwürdige“ Team Saunier Duval und er sicherte sich zudem die Dienste des „berüchtigten“ Luigi Cecchini. Im Ergebnis der „Operación Puerto“ beendete er die Zusammenarbeit mit Cecchini und teilte im Jahr 2007 der UCI mit, dass er im Team Saunier Duval Dopingpraktiken vermute. Er feierte zum Jahreswechsel 2008/2009 das Comeback von Lance Armstrong, hielt diesem aber bereits auf der Abschlussfeier von Discovery Channel bei der Tour 2007 vor den Augen Dritter eine Standpauke und forderte ihn auf, die Anti-Doping-Bemühungen stärker zu unterstützen ... undsoweiterundsofort …

 

Es sind dies nur zwei Beispiele, in denen David Millar eine angeblich eindeutige Haltung zu einem bestimmten Thema bekundet, sie jedoch genau durch das, was er praktisch tut, erneut – und sicher nicht nur in meinen Augen - in Frage stellt, wenn nicht manchmal gar sabotiert, gleichwohl wiederum nicht so, dass er als „überführter Heuchler“ gelten kann. Ich war beim Lesen von diesen „Merkwürdigkeiten“ ziemlich irritiert und begegnete Millars Erklärungen mit erheblichem Misstrauen. Ungläubig und ratlos las ich viele Szenen des 400 Seiten langen Buches.

 

Dramatisierungen

Das Problem stellt sich bereits beim englischen Originaltitel des Buches, dem in meinen Augen fast lächerlich dramatischen „Racing through the dark“. Es kehrt zwar nicht unablässig, aber doch regelmäßig im ganzen Buch wieder: „Fünf Kilometer bis zum Ziel, und ich lag immer noch 45 Sekunden vor allen anderen. Nun war es ein reines Verfolgungsrennen: David Millar gegen das Peloton … Dann waren sie an mir vorbei, hatten mich verschlungen und wieder ausgespien. Aber es waren rotäugige, gebrochene Männer mit stierem Blick, die aussahen, als hätten sie ihre eigene Schlacht verloren, um mich zu kriegen.“

 

Der Stil eines Autors ist gewiss Geschmackssache. Mein Geschmack waren diese Hyperbeln jedenfalls nicht und ich verstand zunächst nicht, wieso sie gewählt bzw. vom Co-Autor gebilligt wurden. Die Erzählweise des Buches ist auch dadurch geprägt, dass gut bekannte Radsportereignisse, die beim kundigen Leser Erinnerungen an einzelne Geschehnisse und Akteure auslösen, ausschließlich auf die Person David Millars bezogen sind, was zweifellos legitim, aber ein klein wenig irritierend ist. Beispielsweise werden Lance Armstrong, Jan Ullrich und dessen Sturz in Millars Schilderung des letzten Zeitfahrens der Tour de France 2003 mit keiner Silbe erwähnt.

 

All diese Wunderlichkeiten gipfelten in einer Szene, die mir nach langem Rumrätseln einen Erklärungsversuch bot und mich dadurch mit David Millar und seinem Buch versöhnte:

„Am zweiten Ruhetag der Tour (2007) gab Saunier Duval in Pau eine Pressekonferenz, um das Engagement des Sponsors für den Umweltschutz zu präsentieren … So ließen wir uns alle leicht ablenken, als plötzlich aufgeregtes Stimmengewirr durch den Pressesaal raunte … Der britische Journalist Daniel Friebe erzählte mir, was passiert war. Winokourow war nach seinen beiden Etappensiegen positiv getestet worden. Ich stand völlig unter Schock ... ‘Ich will einfach nur heulen‘, sagte ich und setzte mich auf den nächstbesten Stuhl. … Ich saß einfach nur da, den Kopf hinter meinen Händen verborgen, und weinte. Kimmage hatte diese Szene unterdessen vom Saal aus beobachtet. Am Wochenende kritisierte er mich in der Sunday Times heftig, warf mir vor, ich hätte für Vino geweint, und schrieb, es seien ‘Tränen für einen Betrüger‘ gewesen. Er irrte ! … Ich weinte, weil mir plötzlich endgültig die Schwere dessen bewusst wurde, was ich meinem Sport und damit allen, die an mich geglaubt, mir zugejubelt und mir vertraut hatten, angetan hatte. Ich hatte ihnen das Herz gebrochen, so wie Vino jetzt das meinige.“

Auch angesichts dieser kleinen Episode blickte ich zunächst völlig ungläubig auf Millars Reaktion. Schließlich, so dachte ich, reden wir hier vom guten, alten Vino im Jahre des Herrn 2007. Weder sein Doping, noch sein „Auffliegen“ konnten für den halbwegs kundigen Fan als große Überraschung gelten, war doch in der Radsportwelt bekannt, dass er spätestens durch die „Men in Black“-Affäre in die Schusslinie geraten war. Auch die Millarschen Dramatisierungen am Ende des Zitats nahm ich wiederum mit Augenrollen zur Kenntnis.

 

Was mich an dieser Szene dennoch nicht losließ, waren die Tränen an sich. Denn die Tränen waren ja echt und „gut bewiesen“ und man weint nicht ohne wirkliche Emotion. Ich überlegte mir, dass es sicher in Kasachstan Radsport-Fans gab, die Vinos positive Probe gefühlsmäßig getroffen hat, die darüber traurig und niedergeschlagen waren. Vielleicht hat der eine oder andere auch ein Tränchen verdrückt. Menschlich ! Aber hier wird schließlich nicht von schwärmerischen Fans, engen Freunden oder Familienangehörigen geredet, sondern vom Radprofi David Millar. Und dieser Profi war auch nicht nur niedergeschlagen, sondern der setzte sich in einer Pressekonferenz an den Rand, nahm sein Gesicht in die Hände und „heulte Rotz und Wasser“, während so ein „scharfer Hund“ wie Paul Kimmage „auf der Lauer lag“ und auch andere Journalisten zugucken konnten.

 

Möglicherweise, so meine Schlussfolgerung, ist David Millar einfach „seelisch verdammt zart gebaut“. Für mich würde das jedenfalls einiges erklären. Nicht nur seine Tränen in der Vino-Episode, sondern zum Teil auch die scheinbaren Widersprüchlichkeiten seines Handelns, die Dramatisierungen in der Erzählweise seiner Biografie. Dieser David Millar wäre dann „echt“ - mit all seinen Wunderlichkeiten. Und wenn dem so ist, dann hätte er – aus seiner Sicht - wohl vollkommen recht mit seinem „racing through the dark“.

 

David Millar ist nach seiner Sperre für längere Zeit dem Alkohol verfallen. Er hat es - mit Hilfe und Unterstützung – auf einem „besseren“ Weg zurück ins Leben und in den Radsport geschafft. Dafür stehen seine Frau, sein Sohn, sein nunmehriges Team und seine jüngsten Erfolge. Aber nicht jedem ist dies in den vergangenen 15 Jahren gelungen. Denken wir an Marco, an Chava Jiménez, an VdB. Wahrscheinlich ist es etwas übertrieben, David Millar in die unmittelbare Nähe der „gefallenen Helden“ zu rücken, zu weit hergeholt aber auch nicht.

 

Genau dies ist meine Empfehlung. Man sollte „Vollblutrennfahrer“ als Biografie eines „Davongekommenen“ lesen, eines sehr sensiblen Menschen, dem man – mit Bedacht - auch Schwächen und Wunderlichkeiten zugesteht, der sich dem Abgrund annäherte und diesen auch noch in sich spürt.

 

 

Hey Dave, wie fühlt man sich denn, wenn man den ganzen Schlamassel hinter sich hat ? Ist doch´n Grund, mal wieder einen draufzumachen oder … ?

 

„Eine Zeit lang stand ich dort, presste meine Stirn gegen die Fensterscheibe und starrte hinaus … Alles, was bisher geschehen war, ging mir durch den Kopf … Da stand ich nun … und weinte still.“

 

`Tschuldigung, alter Flenner, ich vergaß.



 

von Joe Turner, August 2012


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