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Titel: | Der dritte Polizist | Autor: | Flann O'Brien | Originaltitel: | The Third Policeman | Verlag: | Kein & Aber, 2006 | Layout: | Gebundene Ausgabe, 271 Seiten | ISBN-10: | 3036951660 | ISBN-13: | 978-3036951669 | Preis: | EUR 18,00 |
Der erste Polizist? Oder der zweite? (aufgenommen in Neufchâtel, 2009) |
Die Frage der Überschrift stellt in dem Roman „Der dritte Polizist“ ein ... Polizist. Es ist das Erste, was er den Erzähler fragt, der kleinlaut vor ihm steht. Und es ist auch erst der erste Polizist, es stellt sich noch ein zweiter ein, und der dritte dann ... Mit der Frage („Is it about a bicycle?“) endet der Roman auch, und überhaupt ist es DIE Frage des Buchs. Geht es um das Fahrrad? Nicht direkt, aber Fahrräder sind immer dabei, der Roman lebt nicht ohne sie, und also fahren wir los.
Der Ire Flann O’Brien lebte von 1911 bis 1966, meistens in Dublin. Dieses Jahr, Anfang Oktober, beging man seinen 100. Geburtstag, und zu diesem Anlass wurde von vielen prominenten Geladenen in der „Fabrik“ in Hamburg-Altona genau dieses Buch, „Der dritte Polizist“, von vorn bis hinten vorgelesen. Anwesend war auch Übersetzer und Rezitator Harry Rowohlt, der leidenschaftlich für Flann O’Brien geworben und es auch geschafft hat, ihm Tausende Leser zu verschaffen. O’Brien liebte Fahrräder, eine Passion, die er mit seinem Landsmann Samuel Beckett (1906–1989), dem Literaturnobelpreisträger von 1971, gemeinsam hatte.
O’Brien hat das Erscheinen seines Romans, den er 1940 geschrieben hatte, nicht erlebt. Meine englische Ausgabe wurde 1967 veröffentlicht, im Jahr nach seinem Tod. Der zunächst angesprochene Verlag sprach auf das Buch nicht an; er hielt es für unverkäuflich, vielleicht für unlesbar. (Warum es nach dem Tod dann plötzlich geht, ist eine andere Frage. Der Prophet gilt nichts im eigenen Land, und wenn er dann in einem anderen ist, gehen allen plötzlich die Augen auf, als hätte die Anwesenheit des Autors den Blick auf sein Werk verstellt.)
Unverkäuflich, unlesbar? Kann man nachvollziehen. An diesem Buch scheiden sich die Geister. Es wird Leser geben wie mich, die es für genial halten – und andere, die es nach 50 Seiten zur Seite werfen und stöhnen: Was für ein konfuser Mist! Der Kritiker A. L. Kennedy fand den Ausdruck „schön gestaltetes Verrücktsein“.
Wer die Werke von Franz Kafka, F. X. Waechter, E.T.A. Hoffmann, Ror Wolf, Jorge Luis Borges und T.C. Boyle schätzt, der wird den „dritten Polizisten“ in sein Herz schließen. Wer diese Autoren nicht kennt, sollte es trotzdem versuchen. Allerdings wird es mir schwer, sie zu überzeugen, da man vom Inhalt nicht zu viel verraten darf. Eine große Überraschung erwartet den Leser kurz vor Schluss, es ist ein Knalleffekt, eine große Enthüllung, und die Abschlussfrage „Geht’s um ein Fahrrad?“ leitet sozusagen in ein zweites Buch über, das man sich selber denken und schreiben kann.
„Es war vielleicht die älteste Straße der Welt“ |
Da ist einer, der hat ein Haus geerbt, studiert herum und freundet sich mit einem gewissen Divney an. Gleich der erste Satz trifft wie ein Hieb: „Es ist nicht allgemein bekannt, wie ich den alten Philipp Mathers umgebracht habe; ich zerschmetterte ihm die Kinnlade mit meinem Spaten. Aber zunächst sollte ich besser über meine Freundschaft zu John Divney sprechen, denn er war es, der den alten Mathers als erster niederschlug, und zwar mit einem heftigen Hieb in den Nacken, wobei er eine spezielle Luftpumpe verwendete, die er eigenhändig aus einem Eisenrohr hergestellt hatte.“ (An dieser Stelle muss ein weiterer guter Fahrradroman erwähnt werden: der Krimi „Die Speiche“ des Schweizers Friedrich Glauser. Der Titel nennt die Tatwaffe.)
Der Mörder mit dem Spaten sucht eine Truhe mit Geld, die Anlass zu dem Mord gegeben hatte, findet sie nicht, und die Suche danach führt ihn auf einer alten Straße – womöglich die älteste Straße der Welt – in eine eigenartige Polizeistation.
Die Polizisten dort sind irgendwie von Fahrrädern besessen, suchen dauernd geklaute Fahrräder, Pumpen und Lampen und kennen Geschichten von Menschen, die halb zu Fahrrädern wurden, weil sie zu viel auf ihnen unterwegs waren. Das sind Leute, die sich mit dem Ellenbogen an eine Wand lehnen oder einbeinig am Randstein stehen.
Diese Polizisten reden merkwürdig, sind fett und rotgesichtig, aber auch gutmütig. Sie nehmen den Erzähler in einen komplizierten unterirdischen Bau mit, den sie „Die Ewigkeit“ nennen, in dem es keine Zeit gibt und in dem sie andauernd Messungen vornehmen. Dann wird es ernst: Ein Galgen wird gebaut, anscheinend soll der Spaten-Mörder nicht ungestraft davonkommen, und seine Angst ist groß. Zwischendurch hat sich seine Seele bemerkbar gemacht, die er Joe nennt und die ankündigt, ihn bald verlassen zu müssen, schön sei’s gewesen, danke sehr, und ... Doch dann kommt alles anders.
Das Fahrrad, um das es immer wieder geht, sorgt in dem irrealen Ambiente für etwas Realität. Den Sergeanten interessieren nur Fahrräder, für etwas Anderes ist er nicht zugänglich. Er doziert über den Vorzug, den Rechts vor Links besitze und fragt: „Sind Sie je in Ihrem Leben von rechts auf ein Fahrrad gestiegen?“ (Gute Bemerkung.) Er gibt auch fünf große Weisheiten bekannt: Viele Fragen stellen, keine beantworten; alle Antworten zu seinem Vorteil auslegen; immer ein Reparaturset dabeihaben; möglichst immer links abbiegen; nie zuerst die Vorderradbremse betätigen.
Die Geschichte wird durch Exkurse in das Werk eines intellektuellen Einzelgängers verkompliziert, den der Autor erfunden hat: de Selby. Mit diesen Gedanken über Straßen, die in eine Richtung gedacht sind, die Illusion der Zeit und die Farbe der Winde, meist in langen Fußnoten ausgeführt, wird es ätherisch und philosophisch, und überhaupt möchte man den Roman „Der dritte Polizist“ spirituell nennen. Dazu nur das Beispiel „Omnium“, ein rätselhafte Substanz, die in großer Quantität in der Truhe ruhen könnte. Der Erzähler hofft auf Reichtum; der Polizist bemerkt aber nebenbei, dass andere Omnium auch als Gott bezeichneten. Das erinnert an den Spruch des altgriechischen Philosophen Plato, „Iovis omnia plena“: Jupiter erfüllt alles; alles ist voll von Gott.
„weiße Wolken ernst und undurchdringlich“ |
seltsame Erleuchtungen. |
Geschrieben ist der Roman in einer wunderbaren Sprache, wobei O’Brien wie ein Lyriker zu schreiben versteht. „Ich fiel in einen tiefen und einfachen Schlaf. Verglichen mit diesem Schlaf ist der Tod eine störrische Angelegenheit, der Friede ein Geschrei und Dunkelheit ein Ausbruch von Licht.“ Oder eine Stimmung: „Es war ein sanfter Tag – mild, magisch und unschuldig mit dem großen Segeln weißer Wolken ernst und undurchdringlich am hohen Himmel, die sich vorwärtsbewegten wie königliche Schwäne auf ruhigen Wassern.“ Oben auf dem Galgen fliegt den Todgeweihten der Satz an: „Seltsame Erleuchtungen werden denen gewährt, die nach höheren Orten streben.“ Er ergänzt: „Ich weiß nicht, warum ich diesen komischen Satz sagte.“
Das ist eine Qualität des Buchs: Man weiß nicht, was einen auf der nächsten Seite erwartet, und schon die nächste Zeile verblüfft. Der bereits erwähnte Harald Martenstein erinnerte an die Drogen der 1970-er Jahre – der Roman lasse an LSD oder Haschisch denken –, doch Flann O’Brien trank nur Whiskey. Doch das Geheimnis ist, dass er es „laufen ließ“, die schrägsten Einfälle so aufschrieb, wie sie ihm kamen, und auch Kafka soll zuweilen fast automatisch geschrieben haben.
Da stand es, das Fahrrad. |
„Der Lenkergriff schmiegte sich meiner Hand an.“ |
Der Erzähler, allein gelassen von den Polizisten, findet vor der Wache ein Fahrrad. Es ist ein schönes Exemplar. Er sitzt auf und flüchtet. Diese Fahrt ist wunderbar beschrieben. „Wie kann ich die Perfektion meines Wohlbefindens auf dem Rad, die vollendete Vereinigung mit ihr beschreiben und die süßen Antworten, die jedes Partikel ihres Rahmens mir gab? Ich hatte das Gefühl, sie seit vielen Jahren zu kennen und dass sie mich gekannt hatte und wir uns ins Letzte verstanden.“
So fährt er seufzend und glücklich seinem Haus entgegen auf seinem weiblichen Rad, dessen Lenkergriffe, als er es schon verloren glaubte, sich in der Dunkelheit seiner Hand anschmiegen werden, und alles, was dann noch passiert, verliert seinen Schrecken angesichts der Tatsache, dass es anmutige Fahrräder gibt und einen Sergeanten, der darum weiß und immer nur wissen will: „Geht’s um ein Fahrrad?“
© Text und Fotos Manfred Poser, November 2011
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