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Das Buch Wir waren jung und unbekümmert von Laurent Fignon ist schon >>> hier auf cycling4fans vorgestellt worden, doch dieser Abgesang auf die „Goldene Epoche“ des Radsports und sein tapferer Autor haben mehr verdient. Manfred Poser erinnert an Fignons letzten Sieg, seine Karriere und sein Ethos.
Es war im Juli 1992. Ich lebte seit eineinviertel Jahren in Südbaden und hatte irgendwo erfahren, dass die 11. Etappe der Tour de France von Straßburg nach Mülhausen (Mulhouse) führen würde, 35 Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Also bin ich mit meinem englischen Raleigh-Rennrad in einen elsässischen Ort gefahren, durch den die Etappe führen würde, nach den harten Bergen, 20 Kilometer vom Ziel entfernt. Da stellte ich mich an den Straßenrand und wartete.
Damals, 1992, gab es sogar die Mannschaft Raleigh/Saab/Dynatech, wie ich der wunderbaren Seite memoire du cyclisme entnehme. Sogar die Fahrer sind aufgelistet: David Baker, Ian Cammish, Barrie Clark, Gary Holtman, Paul Hinton, Adrian Timmis. Für 1992 sind 71 Teams genannt, und darunter haben wir schon das Team Telekom mit 22 Fahrern (darunter Ampler, Bölts, De Wilde, Henn, Heppner, Kappes, Zabel ... und Marc Madiot, ein Freund von Fignon), Lotto, Kelme, Banesto, ONCE, Festina, Z, Panasonic, Amore & Vita, Mercatone Uno (noch ohne Pantani) sowie eine Exotenmannschaft wie Bleiker / Appenzeller Käse (drei der zehn Fahrer: Beat Breu, Urs Freuler, Karl Kälin), die Ende Juli jedoch aufhörte.
Wir kennen den Tour-de-France-Zirkus. Es rauschten zahlreiche Fahrzeuge der Werbekolonne vorbei und ließen Handzettel, Bonbons und Äpfel zurück, dann lange nichts, dann Hubschrauber, Polizeiautos, schließlich Motorräder, und nebenan saßen vier Franzosen an einem Campingtisch und hatten ein kleines Radio laufen. „Fignon vor dem Hauptfeld!“ kommentierte einer. Noch ein paar Motorräder, noch ein Hubschrauber ... und dann zischte lautlos von links ein Mann in Schwarz-Grün auf dem Rennrad herbei, war blitzartig vorbei, und zwei Minuten später folgte das Hauptfeld in rasender Fahrt. Eigentlich habe ich daran keine genaue Erinnerung mehr, und ich muss mein Foto anschauen, wo ich mit meiner alten, schweren Pentax genau den richtigen Moment erwischt habe: Laurent Fignon unterwegs zum Etappensieg! Irre.
1992 - Laurent Fignon unterwegs zum Sieg |
War es in diesem Jahr oder später, dass mir ein kleiner Junge „Fignon!“ nachrief, als ich mit meinem Rennrad (und lange blonde Haare wie heute unter dem Helm) zurückfuhr über Ensisheim über die Grenze? Ich war jedenfalls stolz. Jeder findet in seiner Sportart Stars, mit denen er sich identifiziert. Zum Beispiel mochte ich immer Phil Anderson, den einzigen Australier im Peloton während der 1990-er Jahre, weil er als einziger lange Haare hatte. Marco Pantani ist verehrenswert, war aber ein schwieriger Charakter, neurotisch und egozentrisch. Wenn ich so über Laurent Fignon und sein Buch nachdenke, meine ich, dass er ein guter Typ war und dass er die Werte verkörperte, die ich auch schätze.
Die 11. Etappe von Straßburg durch die Vogesen, über den Grand Ballon nach Mülhausen war eine Etappe mit Prestige, und es war Fignons letzter Sieg. 1993 beendete er seine Karriere. Schauen wir, was er über diese Etappe in seinem Buch schreibt (ich habe das Original und die Auszüge hier selbst aus dem Französischen übersetzt).
1992 stand Laurent in Diensten der italienischen Mannschaft Gatorade/Château d’Ax, und seine Mitfahrer waren Gianni Bugno (Kapitän), Dirk de Wolf, Ivan Gotti, Oscar Pelliccioli und Pello Ruíz Cabestany (von 18 Fahrern im Aufgebot). Bugno lag gut und hatte sogar noch eine Chance auf den Gesamtsieg; Fignon fuhr für ihn. Vorn hatte sich Miguel Induraín postiert, der im Jahr zuvor seine erste Tour gewonnen hatte. Das Profil der Etappe über das Mittelgebirge der Vogesen „hatte die ideale Kilometerzahl für mich (249,5) und gab mir die Gelegenheit, allen zu zeigen, dass ich mich immer noch Laurent Fignon nennen durfte“.
Beim Briefing vor der Etappe habe er seinen Kollegen gesagt: „Versuchen wir doch einmal etwas.“ Man wollte Bugno einen Platz auf dem Podium (unter den ersten drei) sichern, und dabei musste man etwas wagen. Darum „war es nötig, vor allem Greg Lemond zu distanzieren, der Schwächen gezeigt hatte. Ich dachte, dass man mit dieser Etappe diesen Gegner Bugnos eliminieren könne. Ich hatte den anderen eingeschärft: ‚Wenn ich es euch sage, schreiten wir zur Offensive.’ Alle waren einverstanden. Doch dann drückten sie sich. 100 Kilometer vor dem Ziel fuhr ich zu ihnen und sagte: ‚Der Moment ist da.’ Es wäre zu schön gewesen! Alle machten die Mücke. Aus Gründen, die mir wieder einmal unklar blieben. ... Nur habe ich mich dieses Mal geärgert. Richtig geärgert habe ich mich.“
Ein Plateau in der Nähe des Grand Ballon. |
Erinnerungan Jan Ullrich, der hier 1997 sein Gelbes Trikot verteidigte. |
Laurent Fignon wandte sich an seinen Chef Stanga und rief ihm zu: „Ich greife trotzdem an.“ Schon am Morgen war er mit einer Ausreißergruppe mitgefahren, die wieder geschluckt wurde. Nun gab er Gas, „dans un raid un peu fou“: mit einer etwas verrückten Aktion. Am Grand Ballon hängte der Tour-de-France-Sieger von 1983 und 1984 und der Beinahe-Sieger von 1989 alle ab: „Mein Wille war stärker.“ Hinter ihm jagte ihn mit rasender Fahrt Indurains Team Banesto. „Ich absolvierte praktisch ein Zeitfahren von 100 Kilometern! Auf dem Grand Ballon hatte ich zwei Minuten Vorsprung vor dem Hauptfeld.“ Der zweite sportliche Direktor von Gatorade wies ihn an, auf den Fahrer Fuerte zu warten, der 30 Sekunden hinter ihm lag. Fignon wollte nicht. Der Vorsprung vor dem Peloton war zu knapp.
Gegenwind bis Mülhausen. 53 Kilometer noch. „Aber ich habe die Strecke in weniger als einer Stunde geschafft. Trotz des Furors des Hauptfelds konnte ich eine Handvoll Sekunden ins Ziel retten und die Arme hochwerfen. Dieser Erfolg rechtfertigte irgendwie meine Verpflichtung durch das Team. Bei Gatorade waren sie richtig glücklich. Es war ihr erster Sieg bei der Tour!“ Am Abend zeigte sich, dass Fignon Unglaubliches geleistet hatte, als er vor dem Hauptfeld eintraf. Sein früherer sportlicher Leiter Cyrille Guimard hatte sogar extra vier Fahrer abgestellt, die Fignon am Grand Ballon angreifen sollten: Alle machten schlapp. Die französische Presse fand es nicht so toll, dass ein Franzose Leute losschickt, um einen anderen Franzosen zu stoppen. Guimard war vorher lange Jahre Fignons Sportlicher Direktor gewesen, aber jetzt war sein früherer Zögling der Feind.
Der Autor im Regen am Klausenpass, 1994 (Fotos: Helmut Krämer) |
hier mit gelichteter Stirn, fast wie Fignon. |
Fignon schildert auch, wie er Bugno genau erklärt habe, was zu tun sei. Indurain habe seine Schwächen. Am Berg könne er attackieren. Doch dann, in der entscheidenden Phase in den Alpen, hatte Bugno dann nicht den Willen, knickte ein und hängte sich brav an Indurains Hinterrad. Fignon: „Das Gelbe Trikot war zu groß für ihn.“ Am Galibier ein neuer Versuch. „Bugno anzuspornen, war eine vergebliche Aufgabe. Er ließ sich hängen, sagte, es sei ihm zu schnell, und es war unglaublich, dass sich dieser angebliche Ausnahmechampion so schnell entmutigen ließ. ... Dadurch entnervt, verabschiedete ich mich innerlich von dieser Tour de France.“
Laurent Fignon war immer anders. Ein Kämpfer mit Herz. Wir waren jung und unbekümmert ist ein schicker Titel, aber so ganz trifft er es nicht. Er hätte heißen sollen 'Wie haben wir den Radsport geliebt'. Denn den Radsport, den wahren, gibt es nicht mehr; das sagt uns auch der Autor Fignon. Der wahre Radsport ist in die Geschichte abgetaucht und wartet im Exil auf seine Rückkehr. Doch genauso ist es heute mit anderen Sportarten, mit der Wissenschaft und der Literatur. Das viele Geld, die Aussicht auf ein bißchen Bekanntheit sowie die allgemeine Beschleunigung haben die schönsten Dinge des Lebens ihrer inneren Werte beraubt, und was uns geboten wird, ist nur ein Schatten des Wahren.
Was Radsport und Sport sein kann, geht bei Laurent Fignon überall hervor, in den Zeilen und zwischen den Zeilen. Er war nicht unbedingt unbekümmert – im Gegenteil hat man das Gefühl, Fignon war schon immer erwachsen –, aber ehrlich, authentisch, dem Radsport verpflichtet, dieser „lebendigen Kunst“. Er schreibt: „Auf dem Rad verblasst alles leere Getue – Stilübungen halten sich da nicht lange. Das Fahrrad, das ist die nackte Wahrheit.“
Die Berge, Fignons Reich. |
Weiter, über das Zeitalter der Unbekümmertheit: „Niemand betrieb Radsport, um Geld zu verdienen, sondern man tat es, um Rennen zu gewinnen und seine Leidenschaft völlig auszuleben. (...) Die Menschen gleichen auf dem Fahrrad immer dem, was sie sind. Das Fahrrad ist das, womit sich der Mensch findet und beweist [„se trouve e se prouve“, ein schönes französisches Wortspiel]. Es macht Hindernisse und Reichtümer offenbar und weckt ungeheuren Appetit. Mit Ruhm hat das nichts zu tun: Sprechen wir lieber von Fülle. Das Fahrrad lässt uns den Grund unserer Seele berühren. (...) Das Fahrrad fordert das Schicksal heraus.“ Solche pathetischen Worte umgaben den Rennsport immer, und sie sind (oder: waren) angebracht.
„Nous bossions comme des dingues.“ – Wir schufteten wie die Verrückten, heißt das. Radsport bedeutet, zu leiden und sich selbst besiegen zu müssen. Dafür gibt es dann wieder „Momente absoluter Gnade“, wenn alles stimmt und Körper und Geist in einem Sinne arbeiten. Darum hat er Recht, wenn er schreibt: „Das ist das kleine Wunder des Fahrrads, das als Schnittstelle zwischen dem Menschen und der Maschine eine einmalige Erfindung bleibt: Verbindung des Menschen mit sich selbst.“
Laurent Fignon war immer ein loyaler Mannschaftsfahrer – als er vor seinen Triumphen bei der „Tour“ für Bernard Hinault fuhr, den „Dachs“, und gegen Ende seiner Karriere bei Castorama und Gatorade. Und immer war er der Meinung, dass Radsport Angriff bedeute, nicht Taktik: hinschauen und losfahren; den Kampf und die Entscheidung suchen; zeigen, dass man wirklich der Bessere ist. „Wir waren nie Roboter. Verrückt, aber der Sache würdig.“
Doch die Zeit lief gegen ihn. Fignon erlebte jedoch alles, was ein Rennfahrer erleben kann. Er fuhr in einer goldenen Epoche, ohne es zu wissen; danach, nach der legendären Mülhausen-Etappe, kam die Epoche ... Es kam die „terrifiant épisode“, die alle seine Illusionen zerstörte. Es war auf der Tour de France 1993, seine letzte. Das Hauptfeld rauschte unbekümmert mit 50 Sachen dahin, scheinbar mühelos. Fignon griff am Col du Télégraphe an. „Ich fuhr wirklich in einem guten Rhythmus.“ Welche Täuschung! „Denn vor dem Gipfel, als ich wie zu meinen besten Zeiten in die Pedale trat, wie ich zumindest glaubte, sah ich eine Menge von Fahrern aufschließen. Mindestens dreißig. Vielleicht vierzig. Keiner schien sich besonders anzustrengen, und ich konnte nicht mithalten. (...) Das war der letzte Schlag. Es war etwas, das mehr war als eine Demütigung. Ein kleiner Tod. Es war, als hätte man mich dessen beraubt, was ich war. Ich hatte mich aus den Augen verloren. Vernichtet. Zerstört.“
Laurent Fignon fuhr locker weiter, wie ein Tourist. Er genoss das Panorama, den blauen Himmel, die steilen Anstiege. Vor dem Col d’Izoard stieg er dann vom Rad. Der Radsport würde ohne ihn weitergehen, aber mit Epo und anderen Protagonisten. Natürlich blieb der zweimalige Tour-de-France-Sieger seiner Leidenschaft treu, versuchte das Rennen Paris-Nizza aufzumöbeln, bekam es dabei mit der Société der Tour de France zu tun, wurde Kommentator für das französische Fernsehen. Dann kam der Krebs, dem er am 31. August 2010 unterlag. Laurent Fignon wurde 50 Jahre alt, aber er hat seine großen Taten hinterlassen und ein Buch, das den wahren Radsport zeigt, der sich seit 1993 verborgen hat und vielleicht eines Tages wieder eine Auferstehung erlebt.
Straße im Elsaß. Unterwegs zum Sieg. |
Text Manfred Poser, April 2011
Fotos © Manfred Poser und Helmut Krämer,
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