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Radlerprosa



etc. PP - Posers Prosa

Ernstes, Lustiges, Skurriles von Radsportfan Manfred Poser



Wer war Radrennfahrer Achim aus der DDR?

Wiedergelesen: Uwe Johnson, Das dritte Buch über Achim

 

Vom gefeierten Radrennfahrer der Deutschen Demokratischen Republik erfahren wir nur den Vornamen: Achim. Der Mann, der aus dem Westen gekommen ist, hat dafür nur seinen Nachnamen: Karsch. Dann gibt es noch Karin, die schöne Schauspielerin, auf die aber nur eine Nebenrolle entfällt.

 

Diese Personen lässt der deutsche Autor Uwe Johnson in seinem Roman „Das dritte Buch über Achim“ auftreten. Es ist ein Buch, das in der Literaturgeschichte seinen Platz hat und wie kaum ein anderes dem Radsport und dem Fahrrad breiten Raum gibt. Darum muss man es 50 Jahre nach seinem Erscheinen an dieser Stelle besprechen.

 

Damals, in der ersten Hälfte des Jahres 1961, stand der Bau der Mauer bevor, was niemand ahnen konnte. Ab dem 13. August 1961 teilte sie fortan Berlin. Die deutsche Teilung lag gerade elf Jahre zurück, und die Buchkritik meinte, Johnson habe sie in seinem Buch literarisch meisterhaft behandelt. Es wurde sehr gelobt. Der Autor war damals 26 Jahre alt und starb dann 1984, fast 50 Jahre alt, in England.



Das Duell zwischen Achim und Karsch – zwischen Ost und West

Man muss gleich sagen, dass das „dritte Buch über Achim“ ein schwer verdauliches, über weite Strecken fast unlesbares Werk ist. Zumindest erfordert es hohe Konzentration, weil sich der Autor einer eigenwilligen und verdrehten Sprache bedient. Damals schätzte man es, wenn Bücher kompliziert und experimentell geschrieben waren; man wollte etwas ganz Neues haben, da die Nazis die Sprache gründlich ruiniert hatten.

 

Zehn Jahre später, 1970, fing der reifer gewordene Autor dann ein vierbändiges Werk an, das er noch kurz vor seinem Tod beendete und sein bestes Werk ist: die „Jahrestage“. Da hat er die Arroganz der Jugend abgelegt und schreibt flüssig und lesbar.

 

Dennoch: Johnsons frühes Buch bietet so viele wunderbare Schilderungen des Radsports, so viele Erkenntnisse und Einblicke, dass der Leser, der Sprache liebt, es genießen wird. Es wäre ein Radsport-Buch, würde man von den 300 Seiten 180 amputieren. Sowas tut man nicht. Man kann aber raten, sich auf die folgenden Seiten zu konzentrieren: 27 bis 36; 70 bis 102; 144 bis 187; 221 bis 252; 296 bis 299.

 

Die Handlung ist schnell erzählt: Karsch besucht seine alte Freundin Karin, die nun Partnerin des berühmten DDR-Radrennfahrers Achim ist. Karsch will ein Buch über diesen schreiben, das dann das dritte Buch über Achim wäre (es gibt schon zwei). Er stürzt sich in die Arbeit und recherchiert die Jugend des Sportlers. Dessen Vater war gegen Hitler und den Krieg, während der junge Achim als Hitlerjunge den Nazis die Stange hielt. Dann begeistert er sich für das Radfahren und wird bald berühmt, führt „das pausenlos prächtige Leben der Rennfahrer“ (Seite 237).



Grenzübergang Glienicker Brücke ('Agentenbrücke') - 2010

Karsch und Achim diskutieren über die Regierungen ihrer Länder und tauschen Vorurteile aus. Sie verstehen sich nicht. Und dann taucht ein Verdacht auf ... Beim Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953, den die Russen blutig niederschlugen, unterstützte Achim womöglich die Protestierer, kam womöglich ins Gefängnis, wurde womöglich gefoltert, erpresst, „umgedreht“ und zu einem Gefolgsmann der DDR gemacht, wobei es womöglich hieß: Ruhm als DDR-Radsportler - oder Ruin. Ruhm oder Ruin. Ein altes Foto von Achim ist aufgetaucht, das diesen Verdacht nährt. Er selbst meint, die Person auf dem Foto sehe ihm nur ähnlich.

 

DDR-Funktionäre machen kurz vor Ende Karsch deutlich, er möge verschwinden. Das dritte Buch über Achim ist also nur ein Buch über die Vorarbeiten zum echten dritten Buch über Achim, das jedoch nie erscheinen wird.



Eine Liebeserklärung an den Radsport

Was aber vor uns liegt, ist ein bewundernswertes Buch über den Radsport und eine Liebeserklärung an ihn. Da hat ein Autor viel recherchiert und viel verstanden. Johnson war ein großartiger Stilist, und ich denke, es gibt in deutscher Sprache keine vergleichbaren Passagen über das Radfahren.

 

Ein Bahnrennen 1960. „Als schon vom Fahrerlager her Maschinen auf die Bahn gegen den Zielstrich geschoben wurden, erschien in der Loge der Zielrichter ein junger Mann von etwa dreißig Jahren in grauem Straßenanzug.“ Die Lautsprecher streuen die Stimme dieses Mannes über die Ränge. „Der Aufschrei war unvorstellbar.“ Ich dachte an die Schilderung von einer Tour-de-France-Etappe 2000 in einem Tal: Marco Pantani fuhr ein, und das ganze Tal kochte und tobte. Keiner ist seither mehr geliebt worden. Seit sieben Jahre fehlt uns Marco nun schon. Auch der Held des Buchs, Achim, war berühmt. 1960 hatte er schon eine erfolgreiche zehnjährige Karriere hinter sich.

 



Training. Karsch darf zusehen. „Fast eine Stunde lang rasten die acht durch den staubigen Duft einer auswärtigen stillen Landstraße in der genauen Geschwindigkeit von stündlich dreißig Kilometern hinter dem Wagen des Trainers her ... Der Schweiß schwärzte den Staub in ihren Gesichtern, die Reifen rauschten auf dem polierten Pflaster, leichter Wind drückte zwischen den Bäumen hindurch. Sie fuhren in einer Staffel schräg links hintereinander, so dass jeder den Windschatten des Vordermannes ausnutzen konnte, der Führende aber war der Keil für alle.“ (S. 26/27)

 

Und so fahren sie, die Profis, „in der vorbildlichen Haltung, die sich auszeichnete durch Unbeweglichkeit des Rückens über sehr bewegten Beinen“. (185) Muss man alles lernen, denn Radfahren ist „eine komplizierte technische Sportart mit Gerät“ (231). Wir erfahren: „Der aufrecht sitzende Rennfahrer bietet dem Wind eine Angrifssfläche von etwa sechshundert Quadratzentimetern, er kann sie aber durch Bücken oder tiefes Krümmen verringern auf fünfhundert oder dreihundert sogar; und der Widerstand der Luft wächst ja um das Neunfache, wenn die Versuchsperson ihre Geschwindigkeit verdreifacht.“ (231)

 

Alles nicht so einfach. Schon das Treten ... „Senk doch vor dem oberen toten Punkt die Ferse und schieb das Pedal mit der Fußspitze nach vorn statt senkrecht nach unten, unten hingegen heb die Ferse und stoß mit den Zehen das Pedal nach hinten und zieh es rückwärts hoch, während der andere Fuß; und dreh nicht die Knie, und kurbel mal in einem weg ohne dich anzustrengen, damit die hemmenden Muskeln still werden und die anderen locken. Merkste wie das immer besser geht?“ (232/233)



Achim erklärt Karsch einiges. Von seinem Vater habe er vieles gelernt. „Erst beim Alleinfahren kriegt man das Bewegungsgefühl des Fahrrads, das ist ein so dummes Wort, ich meine: du fühlst das Rad in deiner Gewalt wie verlängerte Gliedmaßen -?“ (84) Weiter hinten wird der Radrennfahrer Joachim T. zitiert, der sagt, er habe im Studium erfahren, dass die Fahrbewegungen eines hochtrainierten Körpers durch das Zentralnervensystem gesteuert werden, und jede Aufsicht durch Willen und Bewußtsein verwirre die Automatik für längere Zeit.“ (251). Lass es laufen!


Bernhard Eckstein
1955: Emil Reinecke - Horst Tüller - Täve Schur - Walter Becker (BDR) - Martin Zabel


Der Körper des Radrennfahrers. Seine Psyche. Und: das Rad. „Zeichne mal einen Rahmen!“ wird Achim aufgefordert. (Michael Faiß forderte mich vor einem Jahr genauso dazu auf, und ich, nach zwanzig Jahren Praxis, scheiterte daran.) Die Geometrie des Rads. Achim lernte, sein Rad auseinanderzubauen.

 

Köstlich ist die Geschichte mit dem wortkargen Mechaniker (223-230), der erst unwillig wirkt, aber Achim nur etwas beibringen will, weil er das Fahrrad liebt. Er wird später zum Leibmechanikers des „Meisters der Radfahrer“, des Heldens der Friedensfahrt, dieser berühmten „alljährlichen Fernfahrt durch die Grenzländer des östlichen Militärvertrags“. Alles vorbei. Die Friedensfahrt ist Geschichte.

 

Uwe Johnson lässt einen Radfahrer sagen (den weiter oben erwähnten Joachim T.), die „Schnelligkeit des Fahrgeräts und dessen Verwachsenheit mit dem Körper“ erinnerten ihn an die Kindheit, und dieses Gefühl, das viele verloren hätten, dürfe er im Beruf des Radfahrens wiederfinden und damit vereinbaren. „So fügte er hinzu: sei er sicherlich ein glücklicher Mensch.“ (252)



 

Text Manfred Poser, März 2011


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