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Radlerprosa



etc. PP - Posers Prosa

Ernstes, Lustiges, Skurriles von Radsportfan Manfred Poser



1895

Im April bin ich schon viel mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und habe es auch für manche Rückreise in einen Zug geschoben. Diese Jungen und Mädels, die gleichmütig ihre stierartigen „Ghost“- oder „Canyon“-Modelle ins Abteil bugsieren und sie genauso unbeteiligt wieder hinausschieben – wissen sie etwas über die Geschichte ihres Vehikels? Darum eine kleine Unterrichtsstunde, weil mir kürzlich das höchst unterhaltsame Büchlein „Cycling“ von Jeanne Mackenzie in die Hände geriet (1981, Oxford University Press).

 

Nachdem der Freiherr von Drais 1817 das hölzerne Laufrad erfunden hatte, das man mit den Beinen antrieb, passierte fast 40 Jahre nicht mehr viel. 1855 kamen durch die französischen Brüder Michaux Kurbel plus Pedale hinzu, die aber am Vorderrad befestigt waren. Wie konnte man schneller werden? Indem man das Vorderrad größer machte. Eine Pedalumdrehung brachte einen so ein schönes Stück weiter voran. James Starley erfand das Modell „Ariel“: Durchmesser Vorderrad 1,25 Meter, Durchmesser Hinterrad 35 Zentimeter. Es wurde als „Ordinary“ bekannt und zur Kampfmaschine tapferer junger Herren. Mitte der 1870-er Jahre waren 50.000 Hochräder unterwegs. Wilde Rennen wurden gefahren.



Hochrad im Velomuseum Rehetobel bei St. Gallen


James Kemp Starley, Neffe des Ariel-Erfinders, war verantwortlich für das „Safety“-Rad der Marke Rover mit zwei gleich großen Laufrädern, der Kurbel dazwischen und Kraftübertragung mittels Kette zum Hinterrad. Es wurde 1885 ein augenblicklicher Erfolg.



Gestatten, das Safety!
(Präsentiert von François Cauderay in Friedrichshafen, 2006)

Mit einem solchen Rad stellte ein Fahrer gleich über 100 Meilen (160 Kilometer) einen denkwürdigen Rekord auf: 7 Stunden 5 Minuten 16 Sekunden. Drei Jahre später, 1888, entwickelte John Boyd Dunlop den Luftreifen, und es konnte losgehen. Das Fahrrad-Prinzip ist hinterher nicht mehr groß verbessert worden, sieht man von der Gangschaltung ab, die Tullio Campagnolo 1927 erfand. Nach 1888 dauerte es noch ein paar Jahre, aber dann brach, zumindest auf den britischen Inseln, eine wahre Fahrradmanie aus, für die wir heute keinen Vergleich haben.



Frauen auf dem Rad!

Der Autor Jerome K. Jerome, der auch ein witziges Buch über eine Fahrradtour schrieb („Three Men on a Bummel“, 1900), erinnerte sich: „Im [Londoner] Battersea Park konnte man täglich mittags von elf bis eins zusehen, wie das beste Blut Englands feierlich die 400 Meter zwischen dem Fluß und dem Erfrischungskiosk auf- und abfuhr ... Auf schattigen Seitenpfaden kämpften ältliche Herzoginnen und angehende Adelige in wackliger Fahrweise damit, ihr Gleichgewicht zu halten; wenn sie es verloren, warfen sie die Arme um die Nacken kräftiger junger Burschen, die als Fahrradlehrer reiche Ernte einfuhren.“

 

1895 war das Jahr. Sogar junge Frauen trauten sich, zogen sich bequeme Kleidung an und fuhren auf Rädern durch den Epping Forest. Dafür wurden sie angegriffen und angefeindet. Die ersten Frauenfahrradvereine entstanden, auch in der Schweiz: das Rad als Emanzipationsinstrument! Die große Schauspielerin Sarah Bernhardt (1844–1923) rollte auf dem Rad durch den New Yorker Central Park. Wer etwas auf sich hielt, Geld und Zeit hatte, probierte es. Bis nach Russland verbreitete sich die Fahrradmanie. Auf seinem Landsitz Jasnaja Poljana machte Leo Tolstoj mit 67 Jahren seine ersten Fahrversuche auf einem Rad, das ihm ein Moskauer Fahrradverein geschenkt hatte.

 



Kinder, Frauen und „Mannen“ in der Schweiz
(Arbon 2009)


Er schrieb: „Ich weiß nicht, warum es mir gefällt. Tschertkow ist beleidigt und

kritisiert mich deswegen, aber ich mache weiter und schäme mich nicht. Im

Gegenteil, ich habe das Gefühl, dass ich der mir angeborenen Fröhlichkeit

verpflichtet bin, dass die Meinung der anderen bedeutungslos und nichts

daran falsch ist, wie ein kleiner Junge seinen Spaß zu haben.“ Auch in England wagten sich Literaten aufs Rad. Hier können wir sogar drei spätere Literatur-Nobelpreisträger nennen. Rudyard Kipling (Preisträger 1907) war derjenige, der ausstieg, weil er abstieg. Mit seiner Frau bewegte er 1896 in Torquay ein Tandem, stürzte und wollte nichts mehr davon wissen. Der Dramatiker und Komödiant George Bernard Shaw (1856–1950; Preisträger 1925) war ein absolut begeisterter „Cyclist“, obwohl er immer wieder stürzte. Er erwähnte in einem Brief seine Abschürfungen und Prellungen, die er „in meinem Alter“ (er war knapp 40!) hinnehmen musste.



So könnte Shaw ausgesehen haben: wie Tony Huntington aus Yorkshire (mit Ehefrau Elsie)
Oder so: wie der Mailänder Bildhauer Pietro Coletta


Shaw gegen Russell

Am 16. September 1895 musste Shaw seiner Bekannten Janet Achurch in einem Brief einen Unfall melden. Er sei einen Berg hinabgerast und habe die Beine hochgenommen, und vor ihm fuhr „ein Freund von uns namens Russell“ [der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell, 1872–1970, der dritte Literatur-Nobelpreisträger: 1950], der den seltsamen Einfall hatte, plötzlich anzuhalten, um ein Schild zu lesen. Shaw läutete seine Glocke und steuerte nach rechts; Russell „schaute sich um und wich mit seiner Maschine auch nach rechts aus. Dann – peng. [„Then – smash.“] In der letzten Sekunde gelang es mir noch, ein wenig nach links zu manövrieren, so dass ich nicht im rechten Winkel in ihn hineinfuhr. ... Ich flog ein paar Meter durch die Luft und krachte dann wie ein Blitz auf die Erde, mit Hüfte, Schenkel, Schulter und Handgelenken ... ‚Schon okay’, rief ich, ‚Ich bin nicht verletzt!’“



Bertrand Russell erzählt diese Geschichte 60 Jahre später – und etwas anders – in seiner Autobiografie 1956. Damals, zur Zeit des Unfalls, war er jung, 23 Jahre alt. „Shaw und ich hatten einen Fahrradunfall. Er lernte gerade fahren und raste mit solcher Wucht in meine Maschine, dass er durch die Luft geschleudert wurde und 20 Meter jenseits wieder mit dem Rücken auf dem Boden auftraf. Jedoch stand er unverletzt wieder auf und fuhr weiter, während mein Fahrrad zerstört war und ich mit dem Zug die Heimreise antreten musste. Es war ein sehr langsamer Zug, und bei jedem Halt erschien Shaw mit seinem Fahrrad auf dem Bahnsteig, steckte seinen Kopf ins Abteil und grinste.“

 

Ein Jahr später knallte Shaw mit seinem Rad in ein Pferd und landete wieder unsanft. 1897 schrieb er einem Freund: „Ich hatte meinen jährlichen Fahrradunfall; und die linke Seite meines Gesichts ist temporär etwas verunstaltet. Derzeit sehe ich wie ein schrecklich bestrafter Preisboxer nach der hundertsten Runde aus.“ Dennoch wurde George Bernard Shaw 96 Jahre alt, Bertrand Russell sogar 98.

 



Wells und weitere Fahrradfreunde

Ein weiterer großer Fahrradfreund war H. G. Wells (1866-1846; Autor der Bücher „Zeitmaschine“ und „Krieg der Sterne“). Er schrieb mit „Wheels of Fortune“ den ersten Roman, bei dem ein Hobbyradfahrer die Hauptrolle spielt. Er lernt eine Frau kennen, und bei einer Radtour entspinnt sich eine Romanze. Über seine ersten Kilometer auf dem Rad schrieb Wells: „Ich lernte Radfahren auf sandigen Wegen, und niemand als Gott war zugegen, um mir zu helfen ... es war ein recht läuternder Lernprozess. Damals waren die Fahrräder ziemlich primitiv ... dennoch war das Fahrrad in jenen Tagen das flinkeste Ding auf den Straßen, und der Radfahrer besaß eine edle Größe und einen Sinn für das maßvolle Abenteuer, die ihm jetzt völlig abhanden gekommen sind.“ [geschrieben 1934]

„Edle Größe und Sinn für das maßvolle Abenteuer“: Radler bei einer Veranstaltung in Arbon 2009 (Bild: Peter Wälchli)


Einmal war sein Freund und Mitautor Stephen Crane schwer krank. Jemand musste einen Doktor holen. Wells: „Es gab dort ein Fahrrad, und meine letzte Erinnerung an die tolle Party im Brede House ist, dass ich hinausfuhr in die kalten Tücher einer Winternacht, hinein in ein Morgengrauen mit leichtem Regen, um einen Arzt in Rye zu verständigen.“

 

A propos Arzt: Auch Sir Arthur Conan Doyle (1859–1930), der Medizin studiert hatte, bevor er den Detektiv Sherlock Holmes erfand, war ein großer Fahrradliebhaber. Er sagte einmal: „Wenn man nicht bei Laune ist, wenn der Tag einem dunkel erscheint, wenn die Arbeit monoton wird, wenn Hoffnung zu haben kaum Wert hat, dann steig einfach auf ein Rad und fahr die Straße hinunter, ohne an etwas Anderes zu denken als an die Fahrt, die du unternimmst.“

 

Und zum Abschluss noch zwei wunderschöne Zitate von H. G. Wells. „Jedes Mal, wenn ich einen Erwachsenen auf einem Fahrrad sehe, verzweifle ich nicht mehr an der Zukunft der Menschheit.“ Und: „Utopia wird voller Radwege sein.“



 

Text und Fotos Manfred Poser, April 2010


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