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Radlerprosa



etc. PP - Posers Prosa

Ernstes, Lustiges, Skurriles von Radsportfan Manfred Poser



Zen in der Kunst des Fahrradfahrens

>>> „Das Fahrrad im Winter“
„Kein Ich und keinen Gegner haben“, sagte im 17. Jahrhundert der japanische Schwertkämpfer Chissai Chozan; du kämpfst nicht gegen dich, du kämpfst nicht gegen andere, du bist auf deinem Weg, der immer der deine ist.

Ich will an den letzten Satz meines Beitrags „Das Fahrrad im Winter“ anknüpfen. Er klang regelrecht „wissend“, aber ich bin ja auch noch auf dem Weg und will mich nicht überschätzen. Wir können uns jedoch bei großen Meistern informieren, und dann hängt es von uns ab, was wir in uns eindringen lassen, was auf „fruchtbaren Boden fällt“.



Östliche Mystik

Mir ist das Buch „Zen und die Kunst zu siegen, ohne zu kämpfen“ von Daisetz T. Suzuki in die Hände gefallen (Herder-Verlag Freiburg, 1999). Es geht darin um die japanische Schwertkunst. Ein Problem darin muss uns nicht interessieren: Wie das Schwert, das Menschen töten soll, der Formung der Persönlichkeit dienen kann.

 

Das Fahrrad, um das es mir geht, ist ein friedliches Fortbewegungsmittel. In einem Rennen wird es höchstens zum Instrument von Sieg und Niederlage, und der Unterlegene überlebt. Suzuki schreibt: „Ri ist ein bestimmtes Objekt oder Ereignis, Ji ein universales Prinzip. Solange man die beiden getrennt hält, ist das Leben ohne Freiheit und Spontaneität, und man ist nicht Herr seiner selbst.“ Ri ist also das Fahrrad, das ist uns vertraut; was aber ist Ji?

Ri und Ji, zwei Regenbogen (Oktober 2009, Dottingen)


Die Technik gehört sicher auch zu Ri. Die Zen-Meister betonen jedoch immer wieder, dass die Technik nicht alles ist. Freilich wird erwartet, dass der Schüler sie hundertprozentig beherrscht. Sie muss ihm „in Fleisch und Blut“ übergehen. Mit diesem Ausdruck sind wir schon nahe dran an dem, was gemeint ist. Um perfekt kämpfen zu können, um gut fahren zu können, darf man keinen Gedanken an die Technik verschwenden. Ja, man darf nicht einmal denken, dass man keinen Gedanken an die Technik verschwenden darf.

 

Nun kommen wir zu Ji. „Es kommt darauf an, den Geist bei nichts haltmachen zu lassen.“ (S. 25) Das heißt auf Japanisch „kokoro tomura“. „Es geht darum, den Geist den ganzen Körper erfüllen zu lassen ... überlasst den Geist ganz sich selbst.“ (32) Eigentlich ist es ja kein Geist, sondern ein Nicht-Geist oder besser: der Geist des Nicht-Geistes (mushin no shin), der dunkel bleibt: „Die Gedanken des Nicht-Geistes kannst du nicht lesen.“

 

Untrennbar ist mit der Technik eine gewisse „künstlerische Qualität“ verbunden. Sie heißt Myōyō oder kurz myō. Sie ist überall in der Natur zu finden. Wer eine gute Technik hat, setzt sie auf eine schöne Weise ein; Schönheit und Eleganz werden zu Trümpfen, denn eine schöne Bewegung ist immer effektiver als eine hektische oder eckige.



Dazu gibt es einen Auszug aus einem Buch von Edward T. Hall über den Motocross-Champion Malcolm Smith: „Alle anderen Fahrern hantierten an ihren Lenkern und drehten ihre Maschinen um Steine, Holzbalken, Sträucher und Erdlöcher. Doch eine Filmaufnahme mit Smith (‚On Any Sunday’; mit Steve McQueen) zeigt eine Symphonie von unangestrengter Leichtigkeit. Er setzte seinen Rhythmus stets zu Anfang eines Rennens fest und verlor ihn nie. Am bemerkenswertesten war, dass dieser Mann, der jeden anderen überholte, nicht einmal sehr schnell zu fahren schien. In Wirklichkeit hatte es den Anschein, als ob die anderen Sportler, wenn man jeden einzeln betrachtete, schneller fuhren als Smith.“

 

Klar, dass Smith dabei nicht gedacht hat. Er fuhr „mit schlafwandlerischer Sicherheit“, und der Zen-Gedanke ähnelt dem Schlafwandeln oder dem hypnotischen Zustand, bei denen das Unbewusste die Kontrolle übernimmt. Alles läuft wunderbar, wenn man das „Höhere Selbst“, wie es manche Autoren nennen, oder die „Himmlische Vernunft“ machen lässt. Doch loszulassen, sich gehen zu lassen, ist schwer.

 

„Wenn die Dinge im Zustand von Nicht-Geist (mushin) oder Nicht-Denken (munen) getan werden, also ohne alles Selbst- oder Ichbewusstsein, ist der Handelnde vollkommen frei von Hemmungen und empfindet nicht, dass etwas ihm den Weg verstellt.“ (94) Das genau heißt „keinen Ich und keinen Gegner haben“. Ein Zen-Meister sagte: „Ich rege mich den ganzen Tag und bin doch bewegungslos.“ In solch einem Zustand zu sein – an nichts zu hängen, nichts zu wollen, sich führen zu lassen – heißt, „das Schwert Taja“ zu besitzen: die Vollkommenheit.

 

Auch das Fahrrad kann ein Instrument der Vervollkommnung sein. Es ist eine Verlängerung und eine Ausdehnung des Menschen, der mit ihm verschmilzt. „Geist und Körper bewegen sich in vollkommenem Einklang, ohne jede Störung durch Intellekt oder Emotion. Sogar die Polarität von Subjekt und Objekt verschwindet.“ (93) 00173_bis

 



Die verborgene Seite des Geistes, the Dark Side of the Moon (Konzert von Roger Waters, 2003. Foto: Gianni Gallina)

Tao ist der Weg. Ein berühmter Satz heißt, das Tao, das man benennen könne, sei nicht das wahre Tao. Denn das wahre Tao ist etwas, was man ist und nicht ausdrücken kann. Fahrrad fahren ist gewiss „einer der Wege, auf dem das Leben seine Geheimnisse offenbart“. Wer gut mit dem Rad fährt, ist ein Meister seines Fachs. Aber nur, wer auch sein übriges Leben nach diesen Prinzipien von Ichlosigkeit und Freiheit ausrichtet, wird ein „Mensch des allseitigen Fließens“ genannt. Dazu gehört auch der Geist der Wahrheit und Redlichkeit.

 

Daisetz T. Suzuki schreibt: „Wenn man vordringt bis an die Stelle, wo Himmel und Erde noch nicht geschieden sind, wo Yin und Yang sich noch nicht herausgebildet haben, so ist man einer, der es zu wahrem Können gebracht hat.“ Zen-Adepten forschen immer und überall nach „diesem“.



Westliche Mystik

Doch nun soll nicht der Eindruck entstehen, nur der Zen-Buddhismus habe sich diesem Problem genähert. In der europäischen Geistesgeschichte gibt es zahlreiche, nicht nur christliche Mystiker und Mystikerinnen, denen die Verbindung zum Göttlichen bekannt war. Richard Maurice Bucke etwa, 1902 gestorben, hatte ein Erleuchtungserlebnis und schrieb danach das Buch “Cosmic Consciousness“.

 

Als vierte Stufe (nach drei Stufen des Bewusstseins) hätten wir das „intuitive Bewusstsein“, die vom kosmischen Bewusstsein gekrönt werde. Anthony Peake schreibt 2006 vom „Daemon“, von unserem „Höheren Selbst“, der mehr wisse als wir und zuweilen eingreife und uns helfe, weshalb er auch „Schutzengel“ bezeichnet werde. Viele Menschen sagen: Ich war am Ende, kurz bevor ich aufgeben wollte, kam Hilfe, ich habe in größter Not gebetet und ... Der Daemon greift nur ein, wenn der Mensch wirklich nicht mehr kann. Man kann ihm nicht vormachen, man könne nicht mehr.

 

Sogar der strenge und oft skeptische Immanuel Kant bekannte, es sei möglich, „daß die menschliche Seele auch in diesem Leben in einer unauflöslich verknüpften Gemeinschaft mit allen immateriellen Naturen der Geisterwelt stehe, daß sie wechselweise in diese wirke und von ihnen Eindrücke empfange, deren sie sich aber als Mensch nicht bewußt ist, so lange alles wohl steht“. James Beichler meint in seinem 2008 erschienenen Buch „To Die For“, das Bewusstsein halte sich in einer fünften Dimension auf. Und nicht wenige Autoren sind der Ansicht, unsere Träume seien – wenigstens zeitweise – Ausflüge in die astrale Welt, von denen wir gestärkt zurückkehrten.

Die andere Welt im Nebel (Rheintal von St. Johann, Dezember 2007)


Eine interessante Stelle habe ich bei Joseph Görres gefunden, „Die Christliche Mystik“ (Band II, erschienen 1851, S. 271). Einmal reiste die selige Osanna von Mantua, die krank war, zu Pferd in einen Badeort, und sie „war den ganzen Tag der Reise, zu Pferde sitzend, außer sich; wenn das Pferd irgend wo anstieß oder auch gefahrdrohend strauchelte, saß sie fest und unbeweglich, in Fällen, wo selbst der geübteste Reiter gestrauchelt wäre.“

 

Vielleicht haben wir alle schon einmal glücklich einen Sturz vom Rad vermieden. Es war gerade die intuitiv richtige Bewegung, uns nicht das Gleichgewicht verlieren zu lassen; wir sahen uns schon stürzen, und doch blieben wir oben. Es scheint also eine Verbindung zu einem geistigen Reich zu geben, das wir anzapfen können; wir versuchen, uns der „großen Grenze“ (T’ai chi) zur Unschuld zu nähern und etwas, das wir nicht kennen, „machen zu lassen“.

 

Noch eine Anekdote. Der deutsche Physiker Werner Heisenberg machte mit seinem dänischen Kollegen Niels Bohr eine Wanderung, und in „Der Teil und das Ganze“ (1969) schreibt er: „Einmal sah ich neben der Straße vor uns einen Telegraphenmast, der noch so weit entfernt war, dass ich nur mit äußerster Kraft werfend treffen konnte. Entgegen allen Regeln der Wahrscheinlichkeit traf ich ihn beim ersten Wurf. Bohr wurde ganz nachdenklich und sagte dann: ‚Wenn man versuchen würde zu zielen, sich zu überlegen, wie man werfen, wie man den Arm bewegen muss, so hätte man natürlich nicht die geringste Aussicht zu treffen. Aber wenn man sich entgegen aller Vernunft einfach vorstellt, dass man treffen könnte, dann ist das etwas anderes, dann kann es offenbar doch geschehen.“ (S. 84)

 

Die „himmlische Vernunft“ übernimmt dann die Regie, und ihr ist nichts unmöglich.

Wenn ich manchmal zu einem Treffen absolut pünktlich komme, denke ich mir ähnlich wie Bohr: Wenn du versucht hättest, es genau so hinzudrehen, es hätte nicht geklappt. So habe ich schnell geschätzt, wie lange es dauern könnte, bin losgefahren – und die Intuition tat den Rest.

 

In der westlichen Mystik klingt das oft zu heilig. Richard Maurice Bucke zum Beispiel trennt den „erleuchteten“ Dichter Walt Whitman von dem Alltagsmenschen, der spazierenging oder eine Fähre bestieg; es waren für ihn zwei Wesen. Für den östlichen Mystiker ist der Guru ein Mensch, und ein normaler Mensch. Für ihn ist alles einfach; der große Kampf wird ihm zu etwas Alltäglichem, als ob man, wie Suzuki meint, sein Frühstück zubereite. So gehen wir also lässig unsere Touren an, und wir freuen uns aufs Frühjahr!



 

Text und Fotos Manfred Poser, Februar 2010


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