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etc. PP - Posers Prosa

Ernstes, Lustiges, Skurriles von Manfred Poser, futura9



IVCA-Rallye 2009

Bericht und Fotos von Manfred Poser, Juni 2009 (zum Vergrößern der Bilder bitte darauf klicken)





„Vélos anciens“ zwischen Weinbergen und See<br>Das Treffen der IVCA 2009 in Neuchâtel

Das jährliche Treffen des „Verbands der Veteranenräder“ (IVCA – International Veteran Cycles’ Organisation) wurde Ende Mai in Neuchâtel in der Schweiz abgehalten. Manfred Poser war dieses Jahr nach 2007 wieder dabei.



Neuchâtel - „Vélos anciens“ heißen alte Räder in französischer Sprache, und diese wird in der westlichen Schweiz gesprochen. Das „Velo“ hat sich auch in der ganzen Schweiz als Synonym für das Rad eingebürgert; es wird auf der ersten Silbe betont, und so klingt es wie „Wello“.



Also keine „fietse“ mehr wie beim Treffen der IVCA 2007 in Holland und auch keine „cycles“ wie 2008 Jahr in Südengland, denn Beaulieu, das die Einheimischen „Biuli“ sprechen, war uns (der Ostschweizer Delegation aus Rehetobel bei St. Gallen) zu weit gewesen, außerdem gab es kein Rennen.

 

Nun reisten an einem Mittwoch aus verschiedenen Himmelsrichtungen mit verschiedenen Verkehrsmitteln die 180 Teilnehmer an. Die Europäer kamen meist mit Wohnmobilen oder Autos mit Anhängern nach Neuchâtel und quartierten sich auf dem Campingplatz von Colombier ein, der gut belegt war und einem großen Parkplatz glich. Meine Ostschweizer mussten dabei den „Röschtigraben“ überwinden, eine Linie, die sich unsichtbar von Nord nach Süd durch die Schweiz zieht und die deutschsprachige von der französischsprachigen teilt. Biel am Bieler See heißt auf Französisch „Bienne“, in Bern wird auch viel Französisch gesprochen, und Fribourg im Uechtland darf man auch Freiburg nennen.



Die gute alte Zeit: Man plaudert


Die Unterschiede sind nicht nur sprachlicher Natur. Wie sich Nord- und Süditaliener sowie Bayern und „Nordlichter“ misstrauisch gegenüberstehen, so begegnen einander auch Deutschschweizer und „Romands“. Diese halten jene für kleinkariert und stur, jene diese für oberflächlich und unzuverlässig. Doch mehr Interna aus der Schweiz oder etwa Details aus dem Vereinsleben wird es hier nicht geben; es ist unmöglich, mitzumachen und zur selben Zeit einigermaßen objektiver Reporter zu sein.

 

Das Ehepaar Elsie und Tony Huntington fuhr mit dem Auto bis Frankfurt, ließ dieses bei Freunden stehen und unternahm die noch 400 Kilometer lange Reise über Basel nach Neuchâtel mit einem Hochrad (Tony) und einem „Safety“ (das gebräuchliche Normalrad: Elsie). Glen Norcliffe und eine kanadische Delegation fuhren zu acht (drei Hochräder, fünf Safeties plus Begleitfahrzeug) von Colmar weg. Für die 40 Kilometer (Luftlinie) nach Mülhausen sollen sie sechs Stunden gebraucht haben; da müsste Luigi Malabrocca, der berühmte Giro-Langsamfahrer, vor Neid erblassen. Seine Bestleistung für 40 Kilometer lag bei 3:15 Stunden.



Das „Century“

Der Schaffner mit der jüngsten Teilnehmerin
Manfred Poser am Start

Einschreibung Mittwoch abend im Sportzentrum von Colombier, schnell noch eine Pizza essen und dann in den Schlafsack – denn das „Century“, das traditionelle englische 100-Meilen-Rennen, wird um sechs Uhr morgens gestartet. Man kann jedoch auch später einsteigen; Meldeschluss war um 17 Uhr. Dabei geht es eher um den Spaß: Morgens war die Startzone lange verwaist, erst am frühen Nachmittag drängten sich da die Teilnehmer. Alte Räder sind nicht unbedingt für Marathons gemacht, und auch ein „Brooks“-Ledersattel, so schön er ist, martert irgendwann das Hinterteil.

 

Neuchâtel hatte einen sechs Kilometer langen Kurs auf Radwegen zwischen Weinbergen und dem See vorbereitet. Jeder Teilnehmer bekam ein Kärtchen mit 24 Abschnitten. Nach sechs Kilometern knipste eine Funktionärin oder ein Funktionär ein Löchlein in Nummer 1, und es ging zurück, und so hin und zurück, 24 Mal.



Etwa zehn Fahrer gingen in der Morgenfrühe ins Rennen. Ich startete wie vor zwei Jahren für die Schweiz mit einem Trikot mit dem Kreuz, mit roter Haube und roten Handschuhen, und mein Fahrzeug war der „Tebag“-Renner von 1935, der in Holland schon nach wenigen Runden einen Platten gehabt hatte. Auch Brian Rosenberg, mein schärfster Konkurrent, fuhr los, aufrecht und mit einem ähnlichen Trikot wie ich, das jedoch die dänische Flagge symbolisierte.



Brian Rosenberg aus Dänemark, mein härtester Konkurrent
Ivan Křivanek, nicht weit vor der 100-Kilometer-Marke

Es war schon hell, der Himmel hielt sich bedeckt. Auf verschlungenen Pfaden ging es durch Wohnquartiere, an einem alten Hotel und Weinbergen vorbei, und plötzlich schlug der See sein smaragdgrünes Auge auf, es windete stark, und nach einem Kilometer am Waldrand hatte man schon die erste „Schaffnerin“ vor sich, die die Fahrkarte durchlöcherte. Diese Strecke musste man gut memorieren, aber nach dem fünften Mal fuhr man das schon im Schlaf. 100 Meilen sind kein Pappenstiel, aber der Himmel öffnete sich und gab der Sonne Raum, und man begegnete allen, die gerade in der umgekehrten Richtung unterwegs waren.

 

Bald winkte mir Marc LeBreton zu, hinter dem auf dem „Triplette“ zwei Damen saßen, Nicole und Natalie; immer hob der dicke Tscheche Ivan Křivanek die Hand, der sein Laufrad vorwärtswuchtete und gern 100 Kilometer fahren wollte, um einen Rekord aufzustellen; vorbei glitten Brian Rosenberg und der schnauzbärtige Günther Erber aus Hannover, gut unterwegs; da waren Hans Peter Mikkelsen, der scheue Däne, und der Frankfurt Hochradfahrer Hans Rügner. Es war wie im Karussell – und dann und wann ein weißes Diamant. Und alle grüßten den roten Renner, die Coppi-Kopie mit dem gebeugten Rücken und dem hungrigen Blick. Denn ich wollte den Sieg!

 



Gefahren

„All Heil – unserem Ziele zu.“ Ein Schweizer Teilnehmer

Etwa nach der vierten Runde war an einem Kanal ein Menschenauflauf zu beobachten. Da stand ein schwarzer Geländewagen, neben dem am Boden ein Teilnehmer in gestreifter Kleidung lag, lang hingestreckt. Man kümmerte sich um ihn. Ein Unfall! Das war ernst. Der Krankenwagen kam, wir fuhren weiter, aber eine Stunde blieb der Verletzte aus der tschechischen Republik liegen. Man fürchtete Verletzungen der Wirbelsäule und betreute ihn an Ort und Stelle. Später kam er ins Krankenhaus. Der Geländewagen war rückwärts ausgebogen, der Tscheche hatte sein Rad sausen lassen und war an den Wagen geprallt. Er brach sich die Schulter und den Ellebogen, wurde operiert und ist mittlerweile schon wieder zu Hause.

 

Das Bild des schwarzen großen Wagens neben dem niedergestreckten Tschechen verfolgte einen noch viele Runden. Als hätte eine dunkle Schicksalsmacht einen arglosen Clown hingemeuchelt. Wir wissen: Das Auto ist der natürliche Feind des Radfahrers, und auf Platz zwei folgt, noch vor dem Kind: der Hund. Ich wollte ein Foto machen und hatte mir die kleine Nikon in die linke Hand geklemmt, während die rechte ein Sandwich umklammert hielt. Ich war also alles andere als bremsbereit, als ein Hund seinen Herrn verließ und über die Fahrbahn streunte, seine lange Leine mitnehmend und sie als Fallstrick aufspannend. Ich rief „Attention“ und bremste, wie es irgend ging, und die Kollision wurde eben noch vermieden. Der Feiertag (Christi Himmelfahrt) erleichterte das Rennen nicht gerade, denn Menschen schleppten kleine Gefriertruhen und sich selbst zum Strand; man ist immer wieder erstaunt, wie langsam sie reagieren, wenn ein Radfahrer naht, wie sie sich mit schildkrötenartiger Geschwindigkeit zur Seite bewegen. Das soll die Spezies sein, die sich im Kampf gegen wilde Tiere und Naturgewalten behauptet hat? Nun zu Gefahr Nummer vier: dem technischen Defekt.



Monsignore Julien Laederach segnet

Bereits auf der ersten Runde war unerwartet der Rahmen des Hochrads vom Ettmüller Richard aus Ablaching gebrochen. Man sitzt ja hoch, 140 Zentimeter; zum Glück fiel der Pilot zunächst mit der Brust aufs Vorderrad und rutschte noch dahin, was ihm Schürfwunden an Bein und Arm eintrug. Leider hatte es schon bei der Anfahrt in der Norcliffe-Truppe zwei Unfälle gegeben: Peter Matthews scheiterte mit dem Hochrad an einer Bordsteinkante und verletzte sich die Hüfte; Gary Sanderson, 2007 noch Präsident der IVCA, stürzte vom Hochrad und zog sich Gesichtsverletzungen zu. Das Hochrad ist hochgefährlich, und dazu sollte man Uwe Timms Roman „Der Mann auf dem Hochrad“ (1984) lesen.

 

Der Rest ist Fahren. Man hat irgendwann die Hälfte, irgendwann zwei Drittel, man hat 20 Punkte, und dann steht die letzte Runde an. Klar, wenn da wie ein Besessener ein roter Renner auf- und abfährt, denkt man, hört der nie mehr auf? „Wieviel Kilometer bist du gefahren?“ fragte mich ein Mann auf dem Hochrad. „Wir dachten, 250!“ Julien Laederach, der den Monsignore gab, saß mit seinem Dreirad am Ziel und segnete mich zum krönenden Abschluss.



Mit diesem wunderbaren Rad war das kein Problem, auch wenn ich am Vortag mit Gepäck 1200 Höhenmeter absolviert hatte, hoch bis über La-Chaux-de-Fonds hinaus auf 1283 Meter und dann hinunter zum See. Doch dem Körper lässt sich vieles abverlangen. Um halb zwei war ich fertig und auch der Schnellste gewesen. 80 Leute waren ins Rennen gegangen, 30 schafften mehr als die Hälfte der 160 Kilometer, und 11 kamen ganz durch. Brian Rosenberg lag eine halbe Stunde hinter mir, und die Bronzemedaille entfiel auf den Belgier Filip Pauweiss. Somit hatte ich nach über 50 auf diesem schönen Planeten verbrachten Jahren mein erstes Radrennen gewonnen.

Der Century-Sieger: M. Poser (Schweiz) in 7:33 Stunden


Abends gemeinschaftliches Bankett in der Sporthalle Colombier. Ich setzte mich an einen Franzosentisch zu Pierre, Marco, Nicole und Natalie, und ich hatte für die Ostschweiz Ehre eingelegt, denn auf dem Schild an meinem Fahrrad stand (wie bei den anderen) dessen „Geburtsjahr“ 1935 und neben meinem Namen in Klammer: Schweiz. Suisse. In Rom war ich Italiener, in der Schweiz Schweizer. Ein bißchen schauspielern macht Spaß.



Defilée durch Neuchâtel

Am nächsten Morgen, dem Freitag, fuhren alle Teilnehmer auf dem Radweg die sieben Kilometer am See entlang nach Neuchâtel. Es ist immer wieder ein schönes Bild, Hochräder und Dreiräder und alle Arten von muskelbetriebenen alten Fahrzeugen gemütlich sich fortbewegen zu sehen.



Mittlerweile kennt man sich, auf dem Platz am Hafen stehen alte Autos aufgereiht (nette Feinde), und Zeit ist in Hülle vorhanden. Man kann ein Bierchen am Kiosk trinken, trifft den Lehrer Urs aus Basel und auch wieder Ivan Křivanek aus Brünn, der zu seiner Draisienne von 1848 Paradeuniform trägt: ein blütenweißes Tuch mit Gamaschen, über den Schuhen zugeknöpft, schwarze Uniformjacke mit roten Epauletten und dazu einen imposanten Hut.

Lionel Ferris’ Skulptur am See
Die alten Autos schauen über den See
Křivanek (Mitte)
in Paradeuniform
am Hafen
So vergnügt trotz „Knochenschüttler“ von 1839 (Nachbau)


Die erhofften 106 Kilometer, seinen Rekord, hatte er geschafft, doch keiner hatte gelitten wie er, der dicke Tscheche. Sein Infoblatt mit den großen Taten nennt ihn als zweimaligen Weltmeister, als den Halter des tschechischen Rekords über einen Kilometer mit der Draisine (2:46 Minuten), als Finisher des siebenmaligen Ironman mit 10:13 Stunden (sein Kommentar: „Das war 1982, lange vor dem Bauch.“) Am Tag darauf war er fort. Angeblich konnte er nicht mehr sitzen. Am Freitag bot er mir noch 52-prozentigen Slibowitz an, den tschechischen Obstbrand, und war vergnügt.



Pierre Läderach
als „Flic“

Viel Zeit. Ein Imbiss, wobei Coppis Blick auf eine attraktive Asiatin fiel, die einen etwa 5-jährigen Sohn bei sich hatte. Er verfolgte sie – und sprach sie an, auf französisch. Frauen mit Hund, Kind oder Freundin spricht man leichter an; Flirten und Anbaggern geht besser im Rahmen einer gewissen Beiläufigkeit, da man die plumpe Botschaft „Ich will etwas von dir“ vermeiden möchte. Doch der Sohn hielt nichts von Rädern: Er klebe an seinem Gameboy, bedauerte sie. Vermutlich wird er am Gameboy kleben, bis er den Führerschein hat. Das passte zu Urs Schulers Anmerkung (wer so heißt, muss einfach Lehrer sein!), dass wir „die Erziehung der männlichen Jugendlichen der Elektronikindustrie überlassen“ hätten. Er kennt Kinder, die nicht radfahren können und viele andere, die unbeholfen sind. Auch in der Schweiz ist die Quote der Kinder und Jugendlichen, die radfahren, in den vergangenen 15 Jahren um 40 Prozent gesunken. – Die junge Mutter verschwand.



Um zwei Uhr die Hochrad-Weltmeisterschaft. Das ist die Königsdisziplin, und die Hochradfahrer sind selbstverständlich die Adeligen unter den Teilnehmern. Man muss einmal gesehen haben, wie die Fahrer, hinter ihren Gefährten stehend, diese anschieben und sich dann elegant hochziehen; und beim Anhalten gleiten sie nach rückwärts wieder hinunter. Man muss ihnen nur rechtzeitig Richtungsänderungen und Stopps ankündigen, denn Hochräder sind wie Giraffen: elegant, aber nach viel Raum verlangend. Raumgreifend, könnte man sagen.

das Warten
das Starten


Jemand äußerte die Meinung, um 1875 habe man sich der „gemeine Mann“mittels des Hochrads erheben wollen, um den Adeligen auf ihren Pferden gleich zu sein; ein anderer widersprach und meinte, es sei nur um Schneligkeit gegangen: Ein Mann mit hohem Vorderrad habe ein Rennen gewonnen, und zwei Wochen später habe schon die Hälfte des Feldes ein Hochrad gefahren. Jede Umdrehung des Vorderrades (an das die Pedale montiert sind) sorgt für Fortbewegung, und je größer das Rad, desto größer das Vorwärtskommen. Etwa um dieselbe Zeit kam das Rad mit zwei gleich großen Laufrädern auf, das „Safety“, und beider Konkurrenz schildert wiederum Uwe Timm ganz hervorragend. Die Ausgewogenheit triumphierte, und es gibt Leute, die das Hochrad schnöde eine „Fehlentwicklung“ nennen. Eine Augenweide ist es aber.

 

Bei Sammlern und Freunden alter Objekte, seien es Lampen, Bilder oder Räder, steht die Frage nach der Originalität im Vordergrund. Draisinen (nach dem Freiherrn von Drais aus Karlsruhe, der 1817 das erste Laufrad entwickelte) von Mitte des 19. Jahrhunderts sind praktisch immer „Replikas“, also Nachbauten, da das Holz vom Zahn der Zeit zernagt wird. Bei den Hochrädern wurde also in zwei Kategorien gestartet: Originale und Replikas. Der Frankfurter Hans Rügner holte sich in der ersten Kategorie den Weltmeistertitel, Marc LeBreton siegte bei den Replikas.

Lionel Ferris
knapp vor
einem Konkurrenten
Der Weltmeister Hans Rügner aus Frankfurt


Danach drang der ganze Tross von über 100 Leuten mit Rädern in die Innenstadt ein und glitt an den dicht besetzten Cafés vorüber, besetzte die Innenstadt, mogelte sich durch Gassen. Pierre als Polizist auf dem Hochrad setzte seine Trillerpfeife ein, Kinder waren dabei und elegant gekleidete Frauen.



Solch ein Defilée friedlicher Menschen auf alten Rädern löst bei Bürgern Anfang des 21. Jahrhunderts sehnsüchtige Gefühle aus: Damals, das muss wohl die „gute alte Zeit“ gewesen sein, als man sich langsam fortbewegte, die Menschen noch ausgiebig miteinander redeten und nicht nur immer über Geld; als das Glück auch im stillen Winkel zu holen war mit einem schönen Mädel und einem Glas Wein und nicht nur auf den Maldediven oder in der Karibik mit Gameboy und Laptop; aber das sind natürlich Projektionen, denn auch zur Hochradzeit gab es Kriege, und während hier schöne alte Räder rollten und sich Fahrer grüßten, schlachteten ihre kolonialistisch tätigen Landsleute auf dem Schwarzen Kontinent Afrikaner ab, die ebensogern Fahrrad fuhren.


Die historische Truppe
in der Innenstadt von Neuchâtel


Jedenfalls war früher die Trennung zwischen Sport und Alltag noch nicht so ausgeprägt. Heute legen Menschen nach der Arbeit den Kampfanzug an und schwingen sich aufs Mountainbike. Das wirkt soldatisch und etwas unfroh, als hätten sie eine Pflicht zu absolvieren. Das unspektakuläre Leben mit dem Rad im Alltag sieht so heiter aus wie etwa in Ferrara (oder auch in Münster und Freiburg), wo Leute herumradeln, anhalten und plaudern; das Fahrrad singt das Lob der Langsamkeit.

 

Diese Rundfahrt verlief optimal, und abends wieder: das Bankett.



Der Teilemarkt

Zum IVCA-Treffen gehört immer der Teilemarkt. Auf einer Fläche bauen Sammler und Verkäufer ihre Waren auf, und es wird gefeilscht. In Neuchâtel geschah dies im Innenhof des Schlosses von Colombier; edles Ambiente, aber wenige Kunden. Anscheinend war die Energie nach den ersten beiden ereignisreichen Tagen erlahmt. Vielleicht waren Geschäfte bereits auf dem Campingplatz getätigt worden. Zum Beispiel stand dort plötzlich ein altes Bantam-Rad am Platz meiner Schweizer Freunde, und der Engländer Lionel Ferris dozierte dazu, bot ein Begleitbuch an und einen Bantam-Mantel für insgesamt 15 Euro.



Lionel Ferris zwischen Hochrad und Auto
Glen Norcliffe (lks.) neben einem belgischen Polizisten

Ferris ist Mitte 60 und trägt mit Vorliebe kurze Hosen und Sandalen an den Füßen, hat einen kahlen Kopf, Nickelbrille und schütteren Vollbart. Er spricht Cockney-Englisch und ist genau das britische Original, das man in diesem Ambiente vermuten würde und auch braucht. Bei der Arbeit am Bantam-Rad ließ Lionel Ferris kurz fallen, die englische Königin habe ihm gestattet, die Räder des Königshauses nachts auszufahren, und so werde er am 3. Oktober, bei Vollmond, im Park der Queen deren Räder bewegen, ob es nun regne oder nicht. Ja, und überhaupt habe er die „Kirche des Heiligen Fahrrads“ gegründet, und wer kenne nicht den Bibelspruch „In meines Vaters Haus sind viele überdachte Fahrrad-Abstellplätze“? Den Monsignore haben wir ja schon, denkbar als Bischof; denn Lionel Ferris muss unbedingt Papst sein.

 

Er meinte, Fahrräder seien sehr feine Materie („bicycles are subtle“), und wie der in Mailand aufgetretene Bildhauer Pietro Coletta gab auch er die Ansicht kund, Räder seien eigentlich Skulpturen. Am Pier von Neuchatel sagte er zu mir: „Ich baue dir jetzt eine Skulptur auf.“ Und er lehnte ein Hochrad an ein Mäuerchen, dass es vor dem See stand, und das war tatsächlich ein abstrakt wirkendes Bild von überirdischer Leichtigkeit.

 

Am Nachmittag war noch ein Aufenthalt in einer kleinen Bucht am See eingeplant, es gab einen Imbiss und kühles Bier, und schwimmen durften wir auch. Die Bucht gehörte zum privaten Anwesen des Präsidenten des Schweizer Velo-Veteranen-Clubs, Jean-Marc Ducommun, der mit seinem Team das ganze Treffen mustergültig organisiert hatte. „Das ist die Großzügigkeit der Romands“, schwärmte Walter aus Rehetobel, und die Sonne war ebenfalls großzügig gewesen. Später saßen wir bei der Siegerehrung, und drei Alphornbläser sorgten für die melancholische Begleitung, dann dann folgte die abschließenden Gala mit Danksagungen, Tanz und der traurigen Verabschiedung reihum nach drei inteniven Tagen.



Die Sammler

Bei der Siegerehrung saß Lionel neben mir und berichtete von einer genussreichen Fahrrad-Ausfahrt von Psychiatriepatienten, und dann sagte er unvermittelt, a propos Krankenhaus, ich sähe eigentlich aus wie dessen Leitender Psychiater; genausogut könne ich aber auch ein gemeingefährlicher Irrer sein, der beim Hofgang entwichen sei. Das ungefähr ist der britische Humor von Lionel Ferris. Ich fand es lustig.

 

Der „Rechtobler“ François Cauderay erzählte noch einmal von dem (mittlerweile verstorbenen) John Pinkerton, der in seinem Haus in einer englischen Reihenhaussiedlung Hunderte Fahrräder aufbewahrte, so dass nur noch eine Gasse für den blieb, der von der Küche ins Wohnzimmer gehen wollte. Der Sammler ist eine besondere Spezies. Er will Gott gleichkommen und strebt der Vollkommenheit nach, indem er versucht, möglichst aller Objekte seiner Sparte habhaft zu werden. Das ist eine Manie, also eine Tätigkeit, die alles andere ausschließt, und in ihren extremen Formen – wie etwa bei Pinkerton selig – wird der Sammler zum Anhängsel seiner Schöpfung, ordnet sich ihr unter und nimmt eine Mission auf sich, die von ihm Selbstaufgabe und völlige Unterwerfung verlangt.

auch das wird gesammelt


Schon kleinere Missionen setzen voraus, dass jemand eine Idealvorstellung hat, die zu verwirklichen ist. Man braucht für ein Hochrad die passende Lampe; dafür zahlt man auch 150 Euro, wenn es die richtige ist, wie sie Gott der Herr erdacht hat. Auch einen alten „Göppel“ (so nennen meine Schweizer ein uraltes Stahlross, einen Drahtesel) herzurichten, ist ein kreativer Akt, eine Art Wiedererweckung: Man haucht ihm göttlichen Atem ein. Ein Fahrrad wird für 20 Euro gekauft, die Gabel ist angebrochen, es ist braun vor Rost und eigentlich nichts ist intakt. Und doch kann es nach monatelange liebevoller Arbeit wieder rollen; das meine ich mit dem Gottähnlichen des Sammlers und Bastlers. Er ist ein Demiurg.



Fahrrad-Philosophie

Und sicher ist er auch ein Philosoph. François war mit mir der Meinung, dass sich Lionel zu Hause gewiss eine Tasse Tee aufbrühte, ein Hochrad an die Wand lehne und dann darüber meditiere. Das mit der Skulptur ist ein schöner Gedanke. Das Fahrrad ist bestimmt kein Körper wie das Auto, das eindeutig Raum umschließt. Ein Fahrrad ist eine Struktur, ist eine Form mit geringstmöglichem Materialanteil; es besteht eigentlich zu 80 Prozent aus Zwischenraum. Wer etwas aufkleben will, hat ein Problem: Es gibt keine größeren Flächen, nur filigranes Stangenwerk. Für Aristoteles war die Form immer bestimmend und rangierte über der Materie, die ihm als etwas Sekundäres galt.




Eine Versammlung
alter „Göppel“ (Schweizerisch)


Das Fahrrad enthält den Menschen nicht wie das Auto; es trägt ihn nur und entzieht ihn nicht der Welt. Es gibt kein leichteres Gerät, das dem Menschen gestattet, sein Gewicht aus eigener Kraft von Hier nach Dort zu bringen, im Kontakt mit seiner Umwelt. Vor einigen Tagen half ich einem Motorradfahrer, dem das Benzin ausgegangen war. Autofahrer anzuhalten, klappte nicht; alle wandten sich ab oder taten so, als ginge sie das nichts an. Sie brüteten in ihrer eigenen Höhle vor sich hin, weltabgewandt wie ungeborene Kinder im Mutterleib. Ist das Rad auch nicht so sehr Materie, so bringt es uns doch in Kontakt mit Erde und Luft, wobei es dem Körper freie Bewegungen gestattet. Das Bewusstsein lebt in Symbiose mit seinem Körper und kommt nicht richtig zu sich, wenn dieser reglos an einen Sitz gekettet ist wie im Auto. Auch der Körper muss frei sein, um dem Geist Freiheit zu geben.

 

Das mit den alten Fahrrädern mag wie ein Spleen wirken, wie ein Spiel von unreifen Kinder. Ist die echte Welt da draußen nicht anders? Brummten nicht Tag und Nacht Motorfahrzeuge auf einer Hochstraße quer über den Campingplatz? Aber wenn man dann mit der Truppe unterwegs ist und etwa sieht, wie alle Leute, wenn sie den bärtigen Tony Huntington auf seinem Hochrad erblicken, spontan lächeln und klatschen, sich einfach freuen – dann denkt man sich: Es ist richtig; es ist der Traum vom spielerischen Vorankommen in frischer Luft und eine Art Spiritualität, die schön verwirklicht wird in Lionel Ferris’ „Kirche des heiligen Fahrrads“, zu der man schon gehört, wenn man in die Pedale tritt.

Gruß und Abschied

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