6 Kilometer vor dem Pass ist Chalet Reynard erreicht, die Straße flacht kurzzeitig komplett ab. Die Möglichkeit zur Trinkwasseraufnahme lasse ich ungenutzt. Linkskurve, die Straße führt sanft steigend am Hang entlang, Rechtskurve - und auf einmal liegt die Steinwüste in ganzem Ausmaß vor den Augen, der Gipfel 4 Kilometer Luftlinie entfernt. Und was soll ich sagen - ich muss über das ganze Gesicht grinsen! Ein derart erhebendes Gefühl habe ich selten auf dem Rad erlebt, und die nächsten Kilometer fahre ich in einem regelrechten Rausch nach oben. Ohne jegliche Mühe, bei perfekten äußeren Bedingungen - was für ein genialer Aufstieg! Immer diese Ammenmärchen von wegen "Qualen in der Mondlandschaft des Ventoux" oder so ähnlich...
Irgendwann hupt es plötzlich hinter mir. Logisch - direkt vor mir vollführt ein Autofahrer unbeholfene Park-Wende-Manöver, die ein Vorbeikommen erschweren. Dass das Hupsignal doch nicht dem unbekannten PKW-Inhaber galt, bemerkte ich erst, als das große Wohnmobil neben mich fuhr und eine wohl bekannte Stimme aus dem Inneren heraus rief. Basti wollte sich den Ventoux dann doch nicht entgehen lassen - wenn schon nicht auf dem Rad, dann eben motorisiert. Kurze Zeit später treffe ich ihn am Denkmal von Tom Simpson wieder. Kurzer Halt, Gedanken an die Tragödie vor 41 Jahren - dann setze ich mich wieder in Bewegung, um die letzten knapp 2 Kilometer in Angriff zu nehmen. Und es rollt immer noch fast wie von selbst. Hinter dem Col de Tempetes wird es nochmal steiler, aber was heißt das schon? Letzte Rechtskehre, Unterlenker gefasst und noch einen kleinen Sprint für die Galerie gefahren - und dann bin ich oben. Wie es war? Einfach sensationell, unbeschreiblich toll, Hammer! Objektiv ist der Ventoux natürlich ein hartes Stück Arbeit, aber die Form ist nicht gerade die schlechteste...
In der Reihenfolge Andi - Konrad - Geralf/Corny trifft die restliche Streitmacht oben ein. Genügend Zeit, um den Ausblick zu genießen sowie tausende von Fotos zu erzeugen, muss natürlich sein, bevor die Abfahrt in Angriff genommen wird. Und die hat es in sich! Auf der langen, 10%igen Gerade hinter Mont Serein komme ich einem dreistelligen Geschwindigkeitswert relativ nahe. Aber als die folgende Rechtskehre nur noch wenige Meter vor mir liegt, zeigen sich die Hände doch noch einsichtig und betätigen reflexartig die Bremshebel. Kurz vor Malaucène, an einem gemütlichen, schattigen Plätzchen mit Gratis-Wasserquelle, erklären wir das Abenteuer Mont Ventoux für beendet und warten auf unser Begleitfahrzeug.
Und weil der Corny Geburtstag hat, erfüllen wir seinen Wunsch, einen idyllischen kleinen Fluss, den er vor Jahren schon einmal besucht hatte, zum Baden anzusteuern. Nun ja, der Fluss musste trotz intensiver Suche leider ungefunden zurück gelassen werden , und so verbrachten wir den Rest des Tages friedlich köchelend im Mobil, während Andi im D-Zug-Tempo Richtung Pyrenäen steuerte. Diese empfingen uns mit einem Gewitter, dass sich und die gesamte Umgebung ordentlich gewaschen hat. Was für eine Erfrischung! Den ganzen Abend hindurch regnete es Bindfäden, aber unter unserer Marquise hatten wir es ganz gemütlich. Zudem war es eine gute Gelegenheit herauszufinden, ob wir zu sechst im Wohnmobil schlafen können. Irgendwie muss es funktioniert haben...