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Historisches rund um den Radsport



La Vie Claire 1985/1986: <br>Geld regiert die Radsport-Welt

Beitrag von Sven

 

Bernard Tapie war in den 80er und 90er Jahren eine der schillernsten Persönlichkeiten in Frankreichs „high society“. Sein Lebenslauf gleicht dem einer Filmfigur, die die Macher aus Hollywood nicht besser hätten erfinden können. Wo mit großen Bündeln französischer Francs gewedelt wurde, waren Tapies Finger nicht weit. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ sind Schlagwörter revolutionärer Vergangenheit, die noch heute jeder französische Dreikäsehoch eingeimpft bekommt.

Manche Menschen, darunter eben auch jener Tapie, schufen gleichfalls ihre eigenen Definitionen französischer Grundwerte: „Freiheit“ in jedweder Hinsicht bei legalen bis unmittelbar illegalen Geschäftspraktiken, „Gleichheit“ im Sinne von „jedem das seine und mir das meiste“, sowie „Brüderlichkeit“ im Klüngel der scheinbar so weit auseinander liegenden und in Wahrheit doch so eng verknüpften Schichten gesellschaftlicher Prima und zwielichtigen Mafia-Vereinigungen.

Doch Mitte der 80er Jahre war es noch „in“, Partner oder Angestellter Tapies zu sein.

Zufälligerweise war ein gewisser Felix Lévitan Tour de France-Direktor jener Epoche. Ein Mann, der in Machtgehabe, Geldgier und Größenwahn einem Tapie in nichts nach stand. Nicht verwunderlich also, dass sich zwei Charaktere mit annähernd kongruenten Ansichten und simultanen Visionen irgendwann, früher oder später, das inoffzielle Ja-Wort geben mussten. Und so kam es, dass auch der Radsport nicht von Bernard Tapie verschont bleiben sollte: Mit seiner Lebensmittelkette „La Vie Claire“ wurde er als Teamsponsor und –chef Mitglied des bunten Zirkus und wollte Erfolg – so schnell als möglich und koste es, was es wolle.

 



Bernard Hinault und Greg Lemond: Das finanzielle Zweckbündnis mit Erfolgsgarantie

„Mir ist der Radsport völlig gleichgültig. [...] Mich interessiert nur die Popularität Hinaults, die ich für unsere Geschäftsgruppe einsetzen möchte.“
Bernard Tapie

Demnach war auch nur das Beste vom Besten gerade gut genug, um die Ansprüche des Geschäftsmannes aus Südfrankreich zu befriedigen: Das Beste vom Besten trug in den 80er Jahren den Namen Bernard Hinault. Der viermalige Tour de France-Sieger wandelte auf den Spuren von Eddy Merckx, dem stärksten Radrennfahrer aller Zeiten. „Blaireau“ (der Dachs), wie der eisenharte Bretone auch genannt wurde, genoss in Frankreich eine ungeheure Popularität, von der selbst Größen aus Politik und Kultur nur zu träumen wagen konnten. Und dieses Image ließ sich Tapie, der mit seinen Firmen 1984 einen Jahresumsatz von 1,7 Milliarden Deutsche Mark erzielte, einiges kosten: Einen Betrag, den er aus der Portokasse zahlte, der gleichwohl aber auch im Radsport seiner Zeit ungeahnte Dimensionen erreichte.



Bernard Hinault bei einer seiner zahllosen Spezialitäten: Klettern
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Hinault kassierte für die Jahre 85 und 86 knapp 3,2 Millionen DM. Da Marketing-Stratege Tapie jedoch, clever und freizügig im Umgang mit seinem Umlaufvermögen, mehrstufig und überregional dachte, beließ er es nicht dabei. Seinen Radsport-Experten war nicht entgangen, dass es mit dem jungen Amerikaner Greg Lemond einen Mann gab, dessen Talent und Ehrgeiz große Sprünge versprach. Da dieser Mann aber auch eine Gefahr für das Planspiel „fünfter Tour-Sieg Hinault“ dargestellt hätte, wurde er kurzerhand für ein Jahressalär von einer Millionen US-Dollar von Renault-Gitanes abgeworben. Schließlich galt auch der amerikanische Markt als höchst interessant und vor allem ertragreich. Vom Kaufrausch besessen wurde zusätzlich mit dem Schweizer Paul Koechli der unumstrittene König der Radtrainer als Sportlicher Leiter verpflichtet. Er sollte die Marionetten lenken und den Zweizack in seine Gewalt bringen. Zwei Egozentriker und ausgebuffte Taschenrechner unter einen Hut zu bringen, schien ein gar unlösbares Unterfangen zu sein und bereits während der Tour de France 1985 begann der Vulkan zu brodeln. Doch kam es auch zum Ausbruch?



Tour de France 1985: Die Teamhierarchie gerät ins Wanken

„Bernard hat einen Durchhänger, aber er kommt durch. Wenn du abhaust, greifst du ihn an. Ich kann das nicht zulassen.“
Paul Koechli

Hinault wusste, dass er dem giftigen Amerikaner schnell den Garaus machen musste, um die Hierarchie im Team zu zementieren. Der Prologsieg in Plumelec übertrug ihm das Gelbe Trikot und verdammte Lemond zur Assistenz. Vierzehn Tage lang wurde diese Rollenverteilung gefestigt, bis die letzten verhängnisvollen 200 Meter vor dem Etappenziel in Saint Etienne warteten. Ein Sturz riss unzählige Fahrer zu Boden, darunter ein blutüberströmter und offensichtlich schwer lädierter Bernard Hinault. Zeitverlust bedeutete dies zwar nicht, griff doch in diesem Falle die Regel des letzten Kilometers, die verhinderte, dass Sturzopfer für ihr Malheur auf der Zielgeraden Zeiteinbußen hinnehmen mussten, dennoch war Hinault für die anstehenden schwierigen Etappen in den Pyrenäen arg gehandicapt. Der ohnehin äußerst starrköpfigen Hochgebirgsluft fiel es noch schwerer, eine gebrochene Nase zu durchströmen...

Hinauf nach Luz Ardiden war es dann soweit: Der Dachs japste hilflos nach Luft, während sein Teamkollege Greg Lemond instinktiv die Chance zum Angriff sah und wahrnahm. Begleitet vom Iren Stephen Roche sowie vom Spanier Eduardo Chozas lancierte er eine Attacke auf das „Maillot Jaune“. Den Griff nach den Sternen vor Augen katapultierte sich der US-Amerikaner die steilen Flanken des Pyrenäen-Anstiegs hinauf, da riss ihn die Direktive von Paul Koechli wie ein abrupter Stich ins Herz aus dem Traum:

„Bernard hat einen Durchhänger, aber er kommt durch. Wenn du abhaust, greifst du ihn an. Ich kann das nicht zulassen.“



„Hinault liegt immer noch gut im Rennen, und du wirst ihm helfen, seine fünfte Tour zu gewinnen. Im nächsten Jahr wirst du der Sieger sein, und er wird dir dabei helfen.“
Bernard Tapie

Lemond war konsterniert und geschockt zugleich, beschwerte sich in den Medien lauthals über Koechli, wurde dann aber von Tapie zum Schweigen verdonnert – ein Handgeld von einer Million Franc machte die Runde und versüßte Lemond den sauren Apfel. Doch nicht nur dies wurde dem rebellischen Amerikaner zugesichert: Gleichwohl auch nahm Tapie den „Dachs“ in die Pflicht und fädelte folgenden historischen Kuhhandel ein: „Hinault liegt immer noch gut im Rennen, und du wirst ihm helfen, seine fünfte Tour zu gewinnen. Im nächsten Jahr wirst du der Sieger sein, und er wird dir dabei helfen.“

Fortan gehorchte Lemond und ließ von weiteren Attacken ab. Hinault gewann seine fünfte Tour vor Lemond und dem Iren Stephen Roche.

 



Tour de France 1986: Hält Hinault Wort?

Sunnyboy Greg Lemond: Der erste amerikanische Tour de France-Sieger
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Im Jahre 1986 waren die Worte Tapies ein Jahr zuvor in beinahe aller Munde. Speziell Greg Lemond vermochte stets den exakten Wortlaut wiederzugeben. Doch wie sah es mit dem Erinnerungsvermögen des Bernard Hinault aus? Von etwaigen Absprachen wollte er im Hinblick auf einen möglicherweise sechsten legendären Tour-Sieg offensichtlich nichts wissen. Zwölf Monate sind schließlich eine lange Zeit und wer kann schon im Vorfeld ahnen, ja planen, wie eine dreiwöchige Rundfahrt über 3000 Kilometer verlaufen wird?

So entwickelte sich in den Bergetappen der Pyrenäen und Alpen ein packendes Hin und Her zwischen den beiden Ausnahmeathleten. Hinault griff Lemond niemals an, doch er machte seinem Spitznamen alle Ehre und war stets wie ein Dachs auf der Hut, immer auf dem Sprung, hätte Lemond auch nur ein minimales Anzeichen von Schwäche preisgegeben. Auf der Etappe von Bayonne nach Pau war es dann bereits soweit, als der Spanier Pedro Delgado über den Marie-Blanque auf und davon zog. Während Lemond dem Antritt des drahtigen Kletterspezialisten nichts entgegen zu setzen hatte, sprang Hinault mit auf den Zug und übernahm als Etappen-Zweiter das Gelbe Trikot: Fünfeinhalb Minuten vor Lemond. Tags darauf schlug Lemond zurück: Die klassische Pyrenäendurchquerung über Tourmalet, Aspin und Peyresourde mit dem ruppigen Schlussanstieg nach Superbagnères ließ der Amerikaner seine Schwäche vom Vortag vergessen und distanzierte die komplette Weltelite mit über einer Minute Vorsprung. Hinault hingegen schwächelte und kam erst 4:39 Minuten hinter Lemond auf 1770 Meter Höhe an. Im Gesamtklassement trennten beide nur noch 40 Sekunden.

Die Alpen standen auf dem Programm und zunächst ging es über Col de Vars, Col d’Izoard und Col du Granon nach Serre Chevalier an den Rand des Col du Galibier. Lemond schlug erneut zu und drückte Hinault weitere dreieinhalb Minuten auf. Dies bedeutete zugleich das erste „Maillot Jaune“ in der Karriere des Greg Lemond.



Tapies Planspiel geht auf: Hinault und Lemond freundschaftlich vereint in den Höhen der Alpen

Es folgte die legendäre Fahrt hinauf nach l’Alpe d’Huez: Hinault spürte einen zweiten Frühling, Lemond hingegen litt auf den ersten Serpentinen wie an keinem Tage zuvor. Doch die Fachwelt erlebte daraufhin einen Hinault, der all seine Charakterzüge, die ihn in den vergangenen Jahren so erfolgreich machten, zugunsten der Kollegialität vergessen zu haben schien. Er zog Lemond die steilen Rampen in den Retorten-Wintersportort geradezu hinauf und so kam es wenige Meter vor der Ziellinie zur geschichtsträchtigen Hand-in-Hand-Überfahrt von Bernard Hinault und Greg Lemond. Der Bretone hatte an diesem Tage also Wort gehalten.

Lemond und Hinault gemeinsam während der denkwürdigen Etappe der Tour 86 hinauf nach l'Alpe d'Huez
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Sein Rückstand auf den Amerikaner betrug nach jener Etappe 2:45 Minuten und noch stand das letzte Zeitfahren in Saint Etienne über 58 Kilometer aus. Plötzlich packte ihn, den ehrgeizigen Franzosen, die Siegeslust – wie die Feuerwehr ging er die ersten Kilometer des Zeitfahrens mit dem Hintergedanken an, dass ihm niemand etwaigen Vertragsbruch in einem Einzelzeitfahren vorwerfen könne, ist im Kampf gegen die Uhr doch jeder auf sich alleine gestellt. Und auf einmal stiegen seine Chancen rapide: Lemond stürzte in einer Kurve – der Vorsprung des Amerikaners schmolz. Doch er schmolz nicht weiter, im Gegenteil: Lemond, vom Sturz eher angespornt als demoralisiert, holte sich Sekunde um Sekunde zurück und hatte im Ziel lediglich 25 Sekunden auf Hinault eingebüßt. Die Tour war entschieden: Die Absprache von 1985 war nicht illusorisch, sie wurde Wirklichkeit. Der chronische Ablauf dabei hätte zudem nicht spannender inszeniert werden können.

Für Bernard Hinault war die Tour de France 1986 der letzte große Akt einer außergewöhnlichen Radsport-Karriere. Er verkündete im November 86 während einer Privatparty in seinem bretonischen Heimatort Quessoy seinen Rücktritt.

Greg Lemond konnte nach seinem ersten Tour-Sieg noch zwei weitere Male in Frankreich triumphieren: 1989 und 1990.

 

 

Zitier-Quelle:

Hans Blickensdörfer (1997): Tour de France - Mythos und Geschichte eines Radrennens

 


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