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Josef S.: Ist der Radsport trotz der Dopingproblematik noch der schönste Sport?

 

Floyd Landis schaute grimmig drein. Die überschwänglichen Menschen im Zielbereich schubste er aggressiv beiseite, und um ein Haar schien es so, als hätte er eine Schlägerei anzetteln wollen. Was war passiert? Floyd Landis hatte gerade mit überwältigendem Vorsprung die siebzehnte Etappe der Tour de France 2006 gewonnen. Mit wuchtigen Tritten war er schon am ersten Anstieg des Tages ganz allein dem Rest des Pelotons enteilt und mit stetig größer werdendem Abstand Richtung Ziel gefahren. Es war dies sein erster Tour-Etappensieg überhaupt, und neben dem Tagessieg geriet er dabei dank seines großen Vorsprungs auch wieder in Reichweite des Gelben Trikots; jenes prestigeträchtigen Leibchens des Gesamtführenden, welches er am Vortag nach einem katastrophalen Einbruch noch endgültig verloren zu haben glaubte. Letztlich konnte er dieses dann beim abschließenden Zeitfahren zurückerobern und bis nach Paris tragen, wo man ihn dann auch wieder lächeln sehen konnte. Doch der grimmige, aggressive Blick von Morzine, diese im Wortsinne "verzerrte Fratze", blieb in den Köpfen der Zuschauer als eines der Bilder dieser Tour haften. Zu Recht, wie sich später herausstellen sollte, denn Floyd Landis hatte bei seiner triumphalen Rückkehr in den Kampf um den Gesamtsieg mit der exogenen Zufuhr von Testosteron nachgeholfen.

 

Dabei hatte diese Tour ohnehin unter keinem guten Stern gestanden. Einen Tag vor dem Prolog wurde bei einem der Aufsehen erregendsten Vorkommnisse des Profiradsports der in der Radsportszene altbekannte sportliche Leiter des Liberty-Seguros-Rennstalls Manolo Saiz während einer Razzia in flagranti beim Kauf von verbotenen Substanzen erwischt. In der Folge dieses Skandals flog das Labor des mutmaßlichen Doping-Arztes Dr. Fuentes auf, der zu seiner Klientel offenbar auch viele prominente Radprofis zählt; unter anderem die beiden designierten Protagonisten für den diesjährigen Toursieg, Jan Ullrich und Ivan Basso. Diese sowie diverse andere, mehr oder weniger namhafte Fahrer wurden daraufhin in einer für manchen Geschmack überstürzt anmutenden Aktion von ihren sportlichen Leitern von der Teilnahme an der Tour de France suspendiert.

 

Von einer "sauberen Tour" zu sprechen hätte aber – mal abgesehen vom Fall Landis – trotzdem zu kurz gegriffen, da mit den getroffenen Maßnahmen nur die Symptome bekämpft wurden und nicht die Krankheit Doping als solche. Es wirkte schon reichlich bizarr, als auf einmal die Adjutanten von Ullrich, Basso sowie des ebenfalls verdächtigen und wegen eines Schlüsselbeinbruchs früh ausgeschiedenen Alejandro Valverde plötzlich um den Gesamtsieg kämpften. Jene treuen Helfer, die mit ihren Kapitänen oftmals eine fast schon intim zu nennende Freundschaft verbindet, und die über das nahe liegende systematische Doping, das ihre Chefs betrieben haben sollen, wohl kaum im Unklaren gewesen sein dürften. Dass sie in TV-Interviews öffentlich Partei ergriffen für ihre jeweiligen daheim gebliebenen Teamkameraden, dass sie ihnen Siege widmeten u.ä. trug einen wesentlichen Teil dazu bei, dass das Misstrauen gegenüber ihnen, ihrem Team und den vollbrachten Leistungen nicht abgebaut werden konnte. Dazu passt auch das Verhalten des zweitplatzierten Oscar Perreiro, der der Nutznießer einer Disqualifikation von Landis wäre, und der geradezu beschämt auf dieses mögliche Erbe des Toursieges reagierte. Dass er lieber im Rennen statt am grünen Tisch gewonnen hätte, ist verständlich; dass er es als "ungerecht" empfände, jedoch irgendwie merkwürdig.

 

Die ganze Operacion Puerto ist bis heute nicht abgeschlossen. Dazu haben alle Beteiligten ihr Scherflein beigetragen: Die durchaus zwielichtige Guardia Civil, die offenbar nationale Interessen vor die bedingungslose und vor allem vollständige Aufklärung gestellt hat und dabei sogar Beweismittel gefälscht haben soll; fast alle nationalen Radsportverbände, die auf der Grundlage unvollständiger Unterlagen kein Verfahren eröffnen wollten, sondern diesen Umstand lieber dankend zum Vorwand nahmen, sich vor unangenehmer Verantwortung zu drücken und daraufhin gleich alle Verdächtigen freizusprechen; die Teams, die von alledem natürlich nichts gewusst haben wollen und sich in gegenseitig übertreffender Empörung üben über die Dinge, die ohnehin nicht mehr geleugnet werden können; die in solchen Fragen stets indifferente UCI, die die Geschichte mit Hilfe von ein paar prominenten Bauernopfern gerne für erledigt erklären würde, um dann so weiterzumachen wie bisher. Und natürlich die beschuldigten Fahrer, von denen nichts Konstruktives zu hören war, sondern stets nur selbstmitleidiges Wehklagen über ihre jeweils ach so ausweglose Situation. Für alle Beteiligten hieß das Motto nur, möglichst schadlos aus der Sache herauszukommen.

 

Derjenige, dem dabei wirklich massiver und womöglich irreparabler Schaden zugefügt wurde, ist aber der Radsport selbst. Wenn sogar in einer Nischen-Disziplin wie dem Cross-Sport die international dort nur hinterher fahrenden Deutschen mit der systematischen Zufuhr von EPO nachhelfen müssen, wie es der bislang jüngste Skandal um das Hamburger Querfeldein-Team Stevens nahe legt, dann scheint sich der Generalverdacht in letzter Konsequenz bewahrheitet zu haben. Radsport-Fan zu sein in der heutigen Zeit ist nicht einfach, weil der Radsport seine (Doping-) Unschuld endgültig verloren hat. Diese stand 1998 beim Festina-Skandal schon einmal auf dem Spiel; seit damals agierte der Radsport im Prinzip auf Bewährung. Dass sich solch tief greifende Ereignisse – dieses Mal sogar in noch weiter gehenden Dimensionen – nun wiederholt haben, dürfte aber auch den letzten Funken an Glaubwürdigkeit zum Erlöschen gebracht haben. Kein Sieg kann mehr uneingeschränkt bejubelt, keine herausragende Leistung mehr ohne kritisches Augenmerk bewundert werden.

 

Wie ist z.B. der glanzvolle Sieg von Fabian Cancellara bei Paris-Roubaix einzuordnen, wenn Mitarbeiter aus der Entourage seines Teams nur wenige Wochen später dabei beobachtet worden sein sollen, wie sie Verpackungen von verbotenen Medikamenten entsorgen? Zwar galt der athletische Cancellara als einer der Anwärter für den Sieg in der "Hölle des Nordens", zumal er schon seit einigen Jahren mit guten Leistungen dort auf sich aufmerksam gemacht hatte und einen Roubaix-Sieg stets als eines seiner Ziele ausgegeben hatte. Aber als Mitglied des als latent anrüchig geltenden CSC-Rennstalls mit dem etwas zwielichtigen "Monsieur 60 pourcent" an der Spitze, in welchem diverse Fahrer, die längst über ihren Zenit hinaus zu sein schienen, plötzlich zu ungeahnten Höhenflügen ansetzten, bleiben somit immer ein paar Vorbehalte bestehen. Und diese wurden sicher nicht dadurch ausgeräumt, dass nur gut einen Monat später beim Giro sein Teamkollege Ivan Basso mit einer schon beängstigend zu nennenden Überlegenheit Tag für Tag den restlichen Bergspezialisten scheinbar ohne Anstrengung und mit einem Grinsen im Gesicht davonfuhr. Jener Basso übrigens, der wegen seiner vermeintlichen Verstrickung in das Doping-Netzwerk des Dr. Fuentes auf Druck des Sponsors bei CSC entlassen wurde, aber längst wieder Unterschlupf gefunden hat beim ehemaligen Team des siebenfachen Toursiegers und seit letztem Jahr ebenfalls stark dopingverdächtigen Lance Armstrong, Discovery Channel.

 

Sicher, es gab auch schönere Momente im vergangenen Radsport-Jahr. Wie sehr hätte man z.B. einem Erik Zabel, der mit seinen gewohnt offenen und ungewohnt deutlichen Äußerungen zum allgegenwärtigen Doping-Thema positiv auf sich aufmerksam machen konnte, zum Abschluss seiner Karriere das zum Greifen nahe Regenbogen-Trikot gegönnt. Wie sehr hat man sich an gleicher Stelle mit dem neuen deutschen Shooting-Star Gerald Ciolek, dessen unkomplizierte und ehrliche Art einen noch daran glauben lassen möchte, dass seine Leistungen "sauber" zustande kommen, über den Gewinn des U23-Weltmeistertitels gefreut. Und wie sehr hat einen das Schicksal von Paolo Bettini gerührt, der zum Abschluss der Saison die Lombardei-Rundfahrt gewann und dabei Tränen in den Augen hatte, da er den Unfalltod seines Bruders zwölf Tage zuvor zu verkraften hatte.

 

Solche Momente werden aber immer mehr in den Hintergrund gedrängt angesichts der ausufernden Dopingproblematik. Dass der Radsport ein Dopingproblem hat, wird kaum jemand, der bei klarem Verstand ist, ernsthaft leugnen können. Über die einzuleitenden Schritte zur effektiven (oder sollte man vielleicht besser sagen: Effekt heischenden?) Dopingbekämpfung wird freilich noch herzhaft gestritten, aber immerhin liegt in der Erkennung eines Problems der erste Schritt zur Lösung desselben. Und bei der Gelegenheit sollte man vielleicht erwähnen, was sonst gerne vergessen wird, dass neben den 58 Radprofis noch ca. 150 weitere Sportler von Dr. Fuentes betreut wurden – Fußballer, Leichtathleten, Tennisspieler, wie er selbst zugegeben hat.

 

Die Leichtathletik hatte spätestens mit dem BALCO-Skandal ihr Aha-Erlebnis, obwohl dort das mediale Interesse sowie die Zuwendungen von Seiten der Sponsoren deutlich geringer ausfallen und somit auch die Auswüchse des Dopings schon aus finanziellen Gründen nicht derart ausgeprägt sein dürften wie im Radsport. Aber gerade der Fußball sieht sich, was den Gebrauch leistungssteigernder Substanzen seiner Aktiven anbelangt, gerne auf einer Insel der Glückseeligen, die von derartigen Missklängen stets verschont geblieben ist. Das wird gerne mit dem hanebüchen klingenden Argument begründet, dass im Fußball – einer sehr lauf- und kraftintensiven Sportart – Doping nichts bringen soll. Für gewöhnlich gelangen dort auch nur Dopingfälle ans Licht der Öffentlichkeit, die auf den Missbrauch von THC zurückzuführen sind; vielleicht, weil diese medienwirksam (natürlich nicht ohne den erhobenen moralischen Zeigefinger) als "Dummer-Jungen-Streich" abgetan und mit entsprechend kurzen, aber damit letztlich wirkungslosen Sperren bestraft werden können. Geradezu entwaffnend offen ist eine Szene aus dem "Sommermärchen", dem Film über die Fußball-WM 2006 in Deutschland, in welcher zu sehen ist, dass Oliver Neuville auch ohne Beisein eines Doping-Kontrolleurs seine Urinprobe abgeben darf, nur weil er laut eigener Aussage "nicht kann", wenn ihm jemand dabei zuschaut.

 

Doping ist geschäftsschädigend, das ist der Konsens, auf den sich die Sichtweise in den verschiedensten Sportarten reduzieren lässt. Der beste Weg scheint folglich der zu sein, dass es erst gar keine Dopingfälle gibt. Ob das dann mitunter nicht eher daran liegt, dass nicht intensiv genug nach solchen gesucht wird, ist eine Frage, die sich für viele direkt als auch indirekt Betroffenen nicht stellt. Die Funktionäre unterschiedlichster Couleur mögen sie gar für irrelevant halten; geht es ihnen in der Regel doch nur darum, mit dem Sport die Nachfrage der Zuschauer und somit letztlich der Gesellschaft nach Identifikationsfiguren zu bedienen, die Nachfrage nach Heldenverehrung, nach emotional bewegenden Geschichten, die sich – nebenbei bemerkt – natürlich auch wunderbar vermarkten lassen. Dabei würde eine Erwähnung des Kapitels Doping selbstverständlich nur stören, dieses Krebsgeschwürs des modernen Sports, dieser "hässlichen Fratze", die es folglich zu verstecken gilt, zu übertünchen oder sonst irgendwie geheim zu halten.

 

Im Radsport dürfte sich nach all den Vorkommnissen wohl kaum noch etwas glaubhaft übertünchen lassen. Der Radsport ist inzwischen zu einer Art Un-Sportart verkommen, auf die gerne mit dem Finger gezeigt wird, wenn es darum geht, von den eigenen Problemen abzulenken. Als Radsport-Fan steckt man somit in der diffizilen Lage, mit all der – zu einem gehörigen Teil durchaus gerechtfertigten – Kritik umgehen zu müssen und gleichzeitig seinen Enthusiasmus für diesen Sport nicht zu verlieren. An der Basis formt sich indes schon vermehrter Widerstand gegen die pharmakologische Hochzüchtung der heutigen Machart. Ob dies wirklich einmal zum Erfolg führen wird, wird die Zeit zeigen müssen. Der Radsport-Fan als Konsument und somit als Endglied in der Vermarktungskette besitzt aber immerhin die Macht, als adressierte Zielperson der Werbeträger wiederum über sein Konsumverhalten eine Art Rückkopplung geben zu können. Im Radsport stehen die Zeichen so schlecht nicht für einen Neuanfang. Wenn nicht jetzt, wann dann, wird sich mancher Beobachter fragen. Ob und vor allem wie tief greifend dieser Neuanfang ausfallen wird, hängt dabei weit weniger von der Verschärfung der Anti-Doping-Bestimmungen, von der Änderung der Gesetzeslage oder von irgend welchen Gerichtsverfahren dopingverdächtiger Fahrer ab, als viel mehr davon, wie lange sich der Radsport-Fan das dopingverseuchte Treiben noch mit offenen Augen anschauen will.

 

Sollte sich der Profizirkus dennoch durch die Fortsetzung des flächendeckenden Dopings weiterhin das eigene Wasser abgraben, wird er damit aber trotzdem nicht den Radsport als solchen auslöschen können. Denn fernab der Rennstrecken hat der Radsport darüber hinaus noch eine Faszination zu bieten, die sich nicht auf Vergleiche aus der Welt der Profis zurückführen lässt und folglich auf diese auch nicht unbedingt angewiesen ist. "Die Tour macht die Helden und nicht umgekehrt", hieß es stets beim bedeutendsten Radrennen der Welt, da das Fehlen großer Namen nicht automatisch negative Auswirkungen auf das Spektakel zur Folge hatte. Da die Tour de France seit je her auch stellvertretend für den gesamten Radsport steht, kann die obige Weisheit für selbigen ebenso herangezogen werden. In der Quintessenz bedeutet das: der Radsport braucht sich nicht verzweifelt an seine gefallenen Helden zu klammern – dazu ist er einfach ein zu schöner Sport!


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