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Perry: Ritt auf der Rasierklinge

 

Es ist Juli. Das Wetter ist heiß und schon die geringste Anstrengung bringt unerwartet viele Schmerzen mit sich.

 

Heute ist Sommer. Schweißperlen rinnen ihm entlang seiner glänzenden Wange herab und bei jedem Tritt in die Pedale seines Mountainbikes durchdringt Müdigkeit und Schwere seine erschöpften Körper. Auf dem Rücken trägt er seine Schultasche und an seinem Hinterrad klebe ich. Ich steige aus dem Sattel und schrei ihn an. „Schneller! Bei ARD geht’s gleich los.“ Um meine Motivation zu unterstreichen lasse ich mich ein wenig zurückfallen, bevor ich an einem kleinen, steilen Gegenhang attackiere.

 

Es ist heiß. Ich bin am Verdursten, aber vor mir sehe ich doch schon, dass ich die Attacke des Tages verpasst habe. Da kommt eine Etappe schon mal in voller Länge und ich kann sie nicht ganz verfolgen. Er kommt wieder an mich heran. In aller Seelenruhe und mit einem unglaublich großen Gang fährt er einfach wieder zu mir auf.

 

Es ist frustrierend. Immer noch sind es 4km. Aus meinem Mund quillt schon der Speichel und ich verfluche den viel zu schweren Schulranzen auf meinem Rücken. Am liebsten würde ich ihn einfach ins Maisfeld neben der Straße werfen.

 

Es ist brutal. Ich reiße mein Hemd auf und noch mal steigt mein Adrenalinspiegel. Wieso eigentlich, frage ich mich. Sind es diese Sportler eigentlich wert, sie so zu vergöttern? Ich versuche nochmals meinen Freund mit einer beherzten Attacke abzuhängen und diesmal wird es mir gelingen. Es sind schon zehn Meter zwischen uns und jetzt sieht er so aus, als müsse er kämpfen. Siegessicher und mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht erhöhe ich nochmals meine Trittfrequenz.

 

Es ist wie ein Rausch. Mir geht es zwar schlecht, aber auch gut. Schwer zu verstehen für einen, der es noch nie selber erlebt hat. Ich sehe mich noch mal um. Schock! Er sitzt schon wieder mit seinem aufgesetzten Grinsen an meinem Hinterrad. Was für ein Bild, denke ich. Genauso geht es mir mit dem Radsport seit dem schicksalsträchtigen Tag vor einem halben Monat. Irgendwo ist dieses merkwürdige Gefühl in mir. Warum sehe ich mir diese voll gespritzten Wunder der Chemie überhaupt noch an? Dann versuche ich dieses Gefühl wieder zu verdrängen. Ich attackiere es sozusagen und bringe ein Loch zwischen mich und den wahrgewordenen Albtraum. Und immer wenn ich denke, dass ich ihn jetzt los bin, schlägt er auf irgendeine Weise zurück. Neue Verdächtigungen, neue Fakten, gefundene Beweise und es verlässt mich wieder jeder Mut den Sport zu genießen. Nur ich liebe ihn viel zu sehr! Es ist wie mit dem Schmerz, der mich durchdringt, wenn ich zum Angriff blase. Ich könnte es einfach lassen. Mich zurückfallen lassen, aber es bereitet mir zu viel Freude. Also noch mal: Angriff. Ich sehe mich um. Diesmal geht er gleich mit. Er versucht sogar zu kontern. Ein Gegenangriff sondergleichen. Eigentlich bin ich bezwungen. Eigentlich will ich nie wieder diesen kaputten Sport betrachten. Eigentlich.

 

Doch diesmal kämpfe ich mich zurück. Ich beobachte den Radsport weiter. Ein buntes und fröhliches Treiben. Tolle Kulissen, spannende Duelle, dramatische Szenen, Idole, Kommentatoren mit oder ohne Fachwissen, Diskussionen im Forum, Freude und Leid. Die geballte Macht des Radsports. Der Sport der Anekdoten; der Sport der kleinen Geschichten über vergangene Tage, Erlebnisse am Rand der Strecke, ehemalige Helden und Gerüchte. Ich bin zu verankert mit der Materie um sie einfach loszulassen. Also schließe ich nochmals auf. Es sind nur noch wenige hundert Meter. Mir wird bewusst, dass ich ihn nicht abhängen kann, aber er wird auch mich nicht abhängen können. Und zudem kann ich ihn heute besiegen, heute kann ich ihn niederringen, wenn auch nur um Zentimeter. Ob es mir gelingt oder nicht? Kommt auf den Tag an. Auf meine Stimmung und auf meine individuelle Verfassung.

Niemals werde ich Radsport wieder so sehen können, wie vor dem D-Day des Radsports.

Aber immer wenn es mir gelingt den negativen Geschmack zu verdrängen, meinen Kumpel um eine Radlänge zu besiegen oder einfach mein Hirn auszuschalten; immer dann werde ich Radsport mit Freude beobachten können. Und deswegen kann ich für mich persönlich nur ein Fazit ziehen:

Radsport ist trotz der Dopingproblematik der schönste Sport, weil ich mich so in ihn verliebt habe, dass ich mich nicht so einfach von ihm loseisen kann.

 

Es ist kühl. Der Ventilator läuft. Hastig schlingen mein Kumpel und ich das Essen herunter und wir setzten uns vor den Fernseher. Wir haben keine Attacken verpasst. Da kommt die erste Attacke: Wir springen auf und feuern unsere Helden an. Was ist Doping? Keine Ahnung!


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