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Die verf***te 13 - Der Oderbruch-Marathon

von Joaquin



Samstag in der Frühe, janz weit draußen in Berlin-Mahlsdorf:: Joaquin erscheint überpünktlich am Start des "Oderbruch-Marathons". Nach einer Saison mit vielen Tiefen und krankheitsbedingt keiner konstanten Form wagt er sich erst zum zweiten Mal in diesem Jahr an eine >200-km-Strecke. Nachdem die letzten Wochen endlich auch echtes Joaquin-Wetter war und einige Trainingskilometer abgespult wurden, ist er einigermaßen zuversichtlich.

 

Die Wetterprognosen sind gut: warm und sonnig, erst gegen Abend sollen Gewitter aufziehen... Da sich die Wetterfrösche aber gerne mal um ein paar Stunden vertun, ist flottes Tempo angesagt. Avisierte 230 km wären bei 30er Schnitt mit Pausen ca. 8 Stunden, mithin 16 Uhr. Das sollte reichen, um trockenen Arsches ins Ziel zu kommen. Etwas irritiert ist er schon, dass nur eine Hand voll anderer Hansel die Einschreibeformalitäten erledigt - aber es ist ja noch sehr zeitig. Als nächstes will ihm der Opa hinterm Tresen unbedingt die Startnummer 13 andrehen - kommt gar nicht in die Tüte, schliesslich gabs dieses Jahr schon genug schlechte Omen, die sich auch erfüllt haben. Ein Weilchen diskutiert, aber bevor endgültig schlechte Laune aufkommt, nimmt er eine sich einmischende junge Frau beim Wort ("Das wird heute Ihre Glücksnummer sein!") und fügt sich in sein Schicksal. Als kleinen Protest und auf Anregung von Matze Kessler bringt er die Startnummer allerdings auf dem Kopf stehend an – schließlich will man sich hinterher keine Vorwürfe machen.



Der Start

Punkt acht Uhr haben sich doch etwa 35 Mann (und wenn er richtig geguckt hat eine Frau) am Start versammelt und machen sich auf den Weg. Entspannt und in Zweierreihe geht es durch Suburbia. Hinter Hönow wird erstmals Fahrt aufgenommen. Das Tempo liegt bei etwa 33 km/h – eigentlich genau richtig zum warm werden. Die Abwechslungen erfolgen regelmäßig, alsbald fährt auch Joaquin in der ersten Reihe. Sein Nebenmann sieht im ärmellosen Trikot, aber dafür mit Armlingen, etwas gewöhnungsbedürftig aus und beschleunigt auch sofort auf 36. Da hat er allerdings nicht mit Joaquins Sturheit gerechnet. Der will sich erst mal richtig warm und die Beine locker fahren, deshalb hat er noch gar keine Lust, aufs große Blatt zu schalten. Als Kompromiss springt schließlich Tempo 34 heraus, wobei J. ganz schön kurbeln muss – zwischen 111 und 117 Umdrehungen pro Minute verraten gelegentliche Blicke aufs Tretometer – der Epo-Ami könnte neidisch werden!

 

Auf einem längeren Pavé-Sektor in Altlandsberg zerlegt sich das Peleton in seine Einzelteile! J. (unterwegs mit Oldtimer-Stahlrahmen und traditionellen 36-Speichen-Laufrädern) düst mit hohem Tempo über die Katzenköpfe, manche jüngere Menschen mit Super-"stiffness-to-weight"-Rahmen und modernsten Carbon-Laufrädern geraten etwas ins Hintertreffen. Und wo jetzt jeder schon mal ein wenig am Limit gefahren ist, gibt es auch nach der Regruppierung des Feldes keine Gnade mehr. 36, 38, 40, 42 – es sind nicht die Lottozahlen, die das Tacho-Display anzeigt! 'Wie unvernünftig!' und 'Wo soll das bloß enden?' meldet sich die Stimme der Vernunft in Joaquins Hinterstübchen. Als Resultat dieser Überlegungen beteiligt er sich munter an der üblen Tempobolzerei. Nach getaner Arbeit bemerkt er beim Zurückfallenlassen bereits erste Löcher im Feld, die Schwächeren verweigern die Führungsarbeit, die Formation gerät durcheinander.

 

Allerdings sinkt das Tempo auch nur unwesentlich, als sich die ersten Hügel der Märkischen Schweiz in den Weg stellen. Joaquin (traditionell mit einer kleinen Bergschwäche ausgestattet, die sich diese Saison plötzlich sehr stark ausgeweitet hat), der eben noch das Tempo gemacht und dabei alles gegeben hat, muss vor sich ein kleines Loch reißen lassen. Der Wille befiehlt 'Dranbleiben!', doch die Beine verweigern den Befehl. Zum Glück erbarmt sich ein anderer Fahrer und schließt die Lücke, aber J. ist jetzt leicht angeknockt. Als über die nächste Welle wieder mit Tempo 40 drübergebügelt wird, beginnt das Spiel erneut. Am übernächsten Hügel trennt sich dann endgültig die Spreu vom Weizen. Es ist jetzt eine sehr unruhige Phase des "Rennens" – einige Fahrer aus der Spitze haben sich übernommen und kommen zurück, hinten haben andere ihren Rhythmus gefunden und streben nach vorne. Joaquin muss erst mal durchschnaufen, nimmt einen Gang raus und kurbelt solo hinter der Spitzengruppe her. Während er noch so vor sich hinlamentiert ("War ja klar, dass das mit der Startnummer heute nicht hinhauen kann!"), schließen von hinten zwei Fahrer auf, und ohne große Worte der Verständigung wird die "Aktion Belgischer Kreisel" gestartet. Dabei nimmt die Kleingruppe wieder ganz schön Fahrt auf, allerdings ist es noch ein Kommen und Gehen: Zurückgefallene Fahrer aus der Spitzengruppe werden integriert, angeschlagene an Hügeln hinten ausgespuckt – Darwinismus pur!



Kilometer 55 - die erste Pause...

(Bis hierher stand Joaquin aufgrund diverser Umstände etwas neben sich, doch ab jetzt bin ich ganz bei mir.) Bei km 55 dann der erste Kontrollpunkt – von der Spitzengruppe schon keine Spur mehr! Die sind quasi "durchgefahren", aber wir halten an. Getränke und Bananen werden aufgenommen, Windwesten ausgezogen und verstaut, und schließlich machen wir uns zu sechst wieder auf den Weg. Praktisch die ideale Gruppengröße für zügiges Fortkommen, und bis auf einen Kollegen harmoniert das Grüppchen auch sehr gut. Wir nähern uns der Oder und Polen, die Landschaft wird völlig flach, die Straßen schlechter. Mein Nebenmann beschwert sich, dass er auf dieser Rüttelpiste keinen richtigen Rhythmus findet und dass ihm der eine Kollege auf den Wecker geht. Ich denke ähnlich, und da wir hinter Neuhardenberg Seitenwind haben, schleichen sich fiese Gedanken ein. Man könnte ihn, wenn er hinten fährt, doch irgendwie auf die Windkante nehmen und... Schnell die unguten Gedanken verscheuchen, ich will heute mal kein Unmensch sein. In Sophiental biegen wir Richtung Norden ab. Der Wind kommt jetzt direkt von vorne, wir reihen uns einzeln hintereinander und machen weiterhin Tempo. Alsbald erreichen wir die Oder samt vorgelagertem Deich. Oben auf dem Deich oder unten fahren ist die Frage, die logischerweise mit "unten" beantwortet wird. Schließlich wollen wir nicht Slalom fahren um Ausflügler mit Hund und Kind.



Panne!

Es geht um die Kurve, jemand ruft "Steine!" Zu spät, ich nehme ein spitzes Exemplar mit, denke noch 'hoffentlich ist das gutgegangen!', aber ein zischendes Geräusch dämpft meine Hoffnung stark, und wenig später gibt mir ein hoppelndes Vorderrad die Gewissheit: Die verf***te 13 hat zugeschlagen! Ein Mitfahrer erkundigt sich noch, ob ich alles nötige dabei habe und verspricht, dass die Jungs am nächsten Kontrollpunkt (der in etwa 20 km kommen müsste) auf mich warten. Dann bin ich auch schon einsam, verlassen und verwirrt. Ich will den Glgnfz machen, meine Frau anrufen und mich abholen lassen. Als erstes bemerke ich, dass ich mein Mobiltelefon nicht dabei habe. Dann fällt mir ein, dass ich ja gar nicht verheiratet bin. Und wenn ich verheiratet wäre, dann bestimmt nicht mit einer Frau, die nix besseres zu tun hat, als auf meine Notrufe zu warten.

 

Es hilft alles nichts, ich muss den Schlauch wechseln. Im Stehen fällt erstmals auf, wie warm und schwül es ist. Das Wasser rinnt mir aus Poren und Nase, ein "Charlottenburger" verfehlt eine Radtouristin nur knapp, der Schweiß brennt in den Augen. Aufgrund mangelnder Übung dauert der Reifenwechsel viel zu lange, der aus der Reihe tanzende Kollege kommt plötzlich angefahren. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er doch noch abgehängt worden war, aber ihn hat es schlimmer erwischt als mich – eine von nur 20 Speichen ist ihm gerissen, trotz geöffneter Bremse schleift die Felge, er muss wohl abbrechen. Schliesslich fährt auch noch ein Grüppchen freundlich grüßend an mir vorbei.

Endlich bin ich wieder startklar, rauf aufs Rad und losgetreten! Ausgerechnet auf der Passage mit dem meisten Gegenwind bin ich ganz alleine! In der vagen Hoffnung, dass meine ehemaligen Begleiter wirklich warten, kurble ich was das Zeug hält. Aus den Augenwinkeln sehe ich Kollege Speichenbruch mit einer Gruppe Autofahrer diskutieren – scheint wohl einen Lift nach Hause zu suchen.



Die zweite Pause...

Am Kontrollpunkt ist die Enttäuschung groß: Nur die langsamere Gruppe, die mich überholt hatte, ist noch da. Sie haben es sich bei einer Portion Nudeln gemütlich gemacht, teilweise die Schuhe ausgezogen und erkundigen sich beim Tresenpersonal über Trainingstreffpunkte. Ich frage, ob es Schläuche zu kaufen gibt. (Hatte morgens noch überlegt, einen zusätzlichen Ersatzschlauch mitzunehmen, mich dann aber dagegen entschieden – schließlich kann ich mich an meine letzte Panne gar nicht mehr erinnern.) Mein Gesuch wurde abschlägig beschieden, allerdings sollte an der nächsten Kontrollstelle eventuell Material verfügbar sein. So ganz ohne Ersatzschlauch wurde mir doch etwas mulmig, und ich beschloss, auf die Gruppe zu warten. Also habe ich zur Zeitüberbrückung auch eine Ladung Nudeln mit Tomatensoße runtergewürgt – ziemlich eklig, und auch noch mit Stücken vom toten Tier!

 

Nach ewiger Zeit besteigen die anderen auch mal wieder ihre Räder. Locker kurbelnd setze ich mich an die Spitze, doch alsbald ertönt von hinten der Ruf "Ruhiger! Ich muss erst mal verdauen." Ich schaue auf den Tacho, finde Tempo 27 schon ziemlich ruhig und schalte seufzend noch einen Zahn kleiner. Der "Ruhiger"-Typ war ausgerechnet der, der sich eben noch großmäulig nach Training und Renneinsätzen erkundigt hatte. Als ich mich nach ein paar Minuten umgucke, fährt nur noch einer direkt hinter mir, zum Rest klafft schon eine kleine Lücke. Ich verfluche nochmals die "13" und erhöhe wieder mein Tempo. Auf solche Begleiter kann ich getrost verzichten. Immerhin bleibt der eine auch bei Tempo 30 an mir dran – besser als gar kein Begleiter, also forciere ich nicht weiter und wir nehmen die restliche Strecke als Tandem unter die Räder. Irgendwann meint er entschuldigend zu mir, dass er so lange Strecken nicht gewohnt sei und er sich seine Kräfte einteilen müsse, obwohl er mir gerne mehr helfen würde. Ich versichere ihm "Ist schon okay", er möchte aber hinterher nicht als Lutscher bezeichnet werden. Ich schalte den Autopiloten ein und programmiere auf 30 km/h.



Zu zweit geht's weiter...

Bis hinter Hohensaaten geht es immer an der Oder entlang und immer gegen den Wind. Ab und zu macht mein Begleiter anerkennende Bemerkungen über meine Leistung – geht runter wie Öl, schon dafür hat es sich gelohnt ihn mitzunehmen... Nach dem Abzweig Richtung Neuendorf wird es windmäßig leichter, dafür wird die Topographie wieder welliger. In Neuendorf dann die Erlösung: links ab auf die Bundesstraße, Rückenwind, abfallendes Gelände. Mit Tempo 55 geht es hinein nach Oderberg, wo ein scharfer Rechtsknick dem Spaß erst einmal ein Ende bereitet. Die Straße steigt wieder an, und zu Ehren unserer Ankunft fängt die Feuerwehrsirene an zu jaulen. Eine rote Baustellenampel bremst uns aus, und wir werden endlose Zeit in der Sonne stehend gegart. Endlich dürfen wir weiter, es folgt der längste und härteste (für Leute aus anderen Gegenden allerdings kaum der Rede werte) Anstieg des Tages hinauf nach Liepe. Mein Begleiter auf seinem Canyon-Leichtgewicht stiefelt locker nach oben, ich mit meinem 11–kg-Stahlrohr und suboptimalem BMI muss mich reinhängen, um dranzubleiben. In Niederfinow geht's an unserer Stamm-Verpflegungsstation "Frau Kühn" und am Schiffshebewerk vorbei zur "offiziellen" Verpflegungsstelle. Einen neuen Schlauch kann ich zwar auch hier nicht erwerben, aber immerhin kann mir Radlegende Onkel Wanja mit Flickzeug aushelfen. Pannentechnisch kann mir jetzt nichts mehr passieren, und auch den Weg kenne ich ab hier von alleine. Außerdem steht der Wind jetzt günstig, was einen möglichen Einbruch meines Begleiters unwahrscheinlicher macht.

 

Hinter Tiefensee wird es aber nochmals sehr hügelig (den Abschnitt kannte ich bisher nur vom Runtersausen) und das Tempo sinkt auf 20 km/h. Dafür gibt's nach der letzten Kontrolle kein Halten mehr: Angesichts von nur noch 35 zu fahrenden Kilometern und Wind von hinten, schalte ich auf 53/14 und gebe alles. Als ich irgendwann nach hinten schaue, klafft schon eine große Lücke zu meinem Begleiter, ich nehme raus und warte. Er ist jetzt doch "völlig am Arsch", wie er gesteht, und fordert mich auf, alleine weiterzufahren. Aber jetzt sind wir so lange zusammen gefahren, da schaffen wir den Rest auch noch. In moderatem Tempo erreichen wir die Vorstädte und schließlich Berlin-Mahlsdorf. 217 km in exakt sieben Stunden stehen zu Buche, es ist wie vorausberechnet 16 Uhr, erste Wolken und hohe Luftfeuchtigkeit deuten auf mögliche Gewitter hin. War mal wieder "jut jewesen", aber Startnummer 13 lasse ich mir trotzdem nie wieder andrehen.


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