„Bevor ich Jérome kennenlernte, kannte ich das Radsportmilieu nicht. Ich war sehr schnell überrascht. In diesem Milieu ist alles Schein, oberflächlich und Geld. Er hat mir immer gesagt, dass er sich dopt. Das erste Mal waren es nur Tabletten. Er nahm mich mit nach Bordeaux zu Dr. Bellocq (* s.u. ). Ich erinnere mich noch daran. Es waren zahlreiche Radfahrer im Wartezimmer. Was mich schockte, war die Anzahl der Tabletten, die er verschrieben bekam. Fünfzig Tabletten pro Tag kam mir seltsam vor. Tatsächlich glaube ich, hat er, obwohl er sie bei Catavana gekauft hat, nur wenige genommen.
Danach bei Festina hat sich alles geändert und ich fing an, mich zu ängstigen. Tatsächlich machte es mir einerseits Angst, andererseits war ich beruhigt, da er sich einer medizinischen Kontrolle unterzog. Das war ein seltsames Gefühl.
In diese Zeit habe ich sehr wohl versucht, Jérome zur Vernunft zu bringen, aber das war nicht leicht. Er sagte mir, ich wisse nicht, wovon ich spreche. Das wäre seine Arbeit und dass er keine Angst haben müsse. (...)
Zuhause lagen Produkte herum (...). Er schaute jeden Tag danach. Das Verhalten eines Süchtigen. Gelegentlich hat er sogar gewisse Produkte zu Freunden von mir gebracht, da er wusste, dass sie dort nicht gesucht würden. Er bat mich auch eines Tages, Produkte in Vintimille, in Italien, zu besorgen, denn seine Schwester lebte an der Grenze. Alles drehte sich darum.
Aber immer noch denke ich, dass ich nicht alles gesehen und gewusst habe. (...) Eine zeitlang galt meine einzige Sorge bei dieser Geschichte den sekundären Effekten. Darüber wusste er auch nicht mehr als ich. Von Zeit zu Zeit versuchte ich mich, soweit es ging, über Zeitungsartikel zu informieren. Seine einzige Antwort lautete: „Die Journalisten verstehen davon nichts.“ Ich hätte von ihm niemals verlangt, dass er sich dopt. Ich wusste, dass er sich deswegen unwohl in seiner Haut fühlte. Er wusste nicht, wie er davon loskommen sollte. Ich nahm es mir übel. Ich habe nicht gewusst was tun, um ihm zu helfen. Er war allein nicht fähig dazu. (...)
Bei Festina hatten alle Fahrer von Bruno Roussel die Anweisung, uns (die Frauen, die Familie) nicht auf dem Laufenden zu halten. Sie sollten sich vor uns keine Spritzen geben! Aber vielleicht wollte ich es auch selbst nicht wahrhaben? Als er aufhörte mit dem Straßenrennsport und eine Karriere als Profi-Mountainbiker bei GT zu beginnen, habe ich ihn häufig begleitet. Da hat sich alles verändert und ich habe schnell sein geheimes Leben entdeckt. Ich erinnere mich an einen Sommer, in dem wir einen Monat ununterbrochen zusammen waren. Ich begann ihn zu überraschen. Wir waren im Hotel. Er blieb sehr lange im Bad, ich versuchte die Tür aufzumachen, aber sie war abgeschlossen. Ich frug ihn, was er mache, er sagte, er komme gleich. Ich insistierte und bat ihn, zu öffnen. Das tat er dann auch. Es war alarmierend, im Arm hatte er eine enorm große Spritze. Ich sah wie er litt, er sagte mir, sein Kopf dreht sich. (...)
Ich hatte selbst Angst davor, meinen Eltern die Wahrheit zu sagen. Unsere Familien waren nicht auf dem Laufenden. Als mein Vater davon erfuhr, war es ein Drama. Das einzige, was er sagte, war: „Warum hat er das gesagt, das hätte er nicht tun sollen, das ist die Welt des Radsports, dass macht man nicht.“ Wenn es nach ihm gegangen wäre, hatte man aufhören müssen und schweigen. Mit Jérome’s Mutter war es dasselbe. Sie machte sich das Bild eine Champions.
Ich konnte auch nicht mit den anderen Fahrerfrauen reden, das machte man nicht. (...) Mit dem Abstand (von heute) denke ich, dass ich mit ihnen hätte reden sollen, denn sie haben einiges zu sagen, wie ich. Leider bedeutet darüber zu reden, den Ehemann zu verraten.
Für mich war klar, dass ich etwas tun musste, aber was? Es gab große Krisen in unserer Ehe. (...) Wenn sie da drin stecken, zählt für sie nur Dopen und Geld. In diesem Kontext hatte ich oft das Gefühl am Rande der Gesellschaft zu leben, mich zu verstecken. Das ging manchmal sehr weit, wie bei der Hochzeit von Emmanuel Magnien, wo Jérome mir unter dem Tisch eine Spritze mit dem Pot belge geben wollte. Er wollte, dass ich es ausprobiere. Er sagte mir, das sei gut. Nach meiner Weigerung gab er es mir in ein Glas, das ich austrank. Ich schlief 48 Stunden nicht, ich war überdreht. Ich sah, wie er sich zusammen mit anderen Fahrern zurückzog um sich in einer ruhigen Ecke Spritzen zu geben. Das machte Angst.
Alles eskalierte, als ich schwanger wurde. Er dachte an all das, was er genommen hatte und an die Konsequenzen, die das für die Geburt von Lou haben könnte. Begann er normal zu werden?
Während der Schwangerschaft stellte ich mir Fragen vor allem während des Ultraschalls. Ich hatte Angst. Als sie geboren war, fand ich sie seltsam. In meiner Vorstellung konnte sie nicht normal sein, obwohl sie alles hatte: zwei Arme, zwei Beine ... . Noch heute weiß ich nicht, ob sie nicht etwas hat, aber ich versuche nicht weiterzudenken. Um mich zu beruhigen sage ich mir, dass andere Fahrer Kinder haben, die ohne Probleme sind. Jetzt weiß ich, dass er niemals wieder damit beginnen wird. (...)
Heute würde ich gerne etwas eigenes mit den Frauen der Fahrer unternehmen. Ich weiß nicht, ob das möglich ist, aber ich hoffe, dass eines Tages eine mich anrufen wird, auch anonym, um ihr Gewissen zu erleichtern. Ich würde bei der Gründung einer Organisation mitmachen, die zur Aufgabe hat, diese Plage zu bekämpfen. Ich bin bereit zur Tour de France zu gehen, wenn ich mein Komitee gründen sollte. Wenn ich hingehen sollte, weiß ich, dass ich den Frauen helfen kann, wie auch den Paaren und den Kindern. Die Frau hat eine Aufgabe. Sie wissen einfach nicht wie. Trotz allem weiß ich, dass das schwierig sein wird, denn viele Leute glauben immer noch nicht, dass es im Radsport Doping gibt. Mit diesem Buch dachten wir, es kämen Briefe. Nichts! Die Leute, die uns unterstützen, stammen nicht aus dem Milieu.“
Zusammengestellt von Eric Serres
* zu Dr. Francois Bellocq (heute verstorben): Dr. Bellocq war in den 70er Jahren Arzt der Equipe Peugeot sowie ein 'médecin fédéral' und aufgrund dessen Mitglied der medizinischen Kommission des Französischen Radsportverbandes FFC. Der FFC schloss ihn 1976 aus, weil er als verantwortlicher Team-Mediziner in einen Betrug bei einer Antidopingkontrolle verwickelt war. Von ihm war bekannt, dass er Fahrern Anabolika und Kortikoide verschrieb. Sein berühmtester Patient der damaligen Zeit war Bernard Thévenet, der später zugab, 3 Jahre lang Cortison genommen zu haben und heute deswegen gesundheitliche Probleme hat (de Mondenard). Alain Vernon berichtete 1989 in der Fernsehreportage Danger dopage über die Verschreibungspraxis (siehe hier).
<typohead type=3> </typohead>
>>> hier geht es zur Besprechung seines Buches 'De mon plein Gré'
Hier noch drei Interviews mit Jérome Chiotti, auf Französich:
velo101, 25.10.2000
l'Humanité, 25.10.2000
l'Humanité, 28.08.2002
Beitrag von Maki, 2004