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Tim Lewis: Das Land der zweiten Chance

Autor:Tim Lewis
Titel:Das Land der zweiten Chance.
Die erstaunliche Geschichte des ruandischen Radsportteams (Übersetzung: Olaf Bentkämper)
Verlag:Covadonga Verlag, Bielefeld
Layout:Broschur, 304 Seiten, 8 farbige Abb., November 2013
ISBN (Print): 978-3-936973-87-7
ISBN (eBook): 978-3-936973-90-7
Preis: 16,80 Euro


 



Das „Land der zweiten Chance“, das der englische Reporter Tim Lewis uns vorstellt, ist Ruanda. Es liegt in Ostafrika, ist etwas größer als Hessen, ist das am dichtest besiedelte Land des Kontinents und grenzt an Uganda, Tansania und die Volksrepublik Kongo. Ruanda ist grün und fruchtbar und wird auch das „Land der tausend Hügel“ genannt. 1994 wurde überall in diesem schönen, kleinen Land gemordet. Todeskommandos der Hutus (sie stellten 85 Prozent der Bevölkerung) zogen aus, um mit Macheten und Gewehren die Angehörigen des Volksstamms der Tutsi (14 Prozent) auszulöschen. 800 000 Menschen wurden hingemetzelt, 10 Prozent der Bevölkerung. 1995 schien Ruanda am Ende.

 

Die zweite Chance. Deutschland verwaltete Ruanda von 1890 bis 1918, ohne sich besonders zu engagieren. 20 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs zettelte der Machthaber dieses großen mitteleuropäischen Staates mit der zehnfachen Bevölkerung Ruandas einen Krieg an, dem 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen, und 6 Millionen Juden wurden nach seinem Befehl planmäßig ermordet. 1945 war das Land an Ende: zerbombt und demoralisiert. Es wurde von den Siegermächten besetzt. Aber Deutschland bekam eine zweite Chance. Und es nutzte sie.

 

Auch Ruanda erlebte eine Wiederauferstehung. Präsident Paul Kagame führte es zu einer neuen Blüte. Täter wurden verurteilt, aber wichtiger waren Vergebung und Vergessen. Es gab nur noch Ruander, nicht mehr Hutu und Tutsi. Doch die Wunden waren tief. Der 1987 geborene Adrien Niyonshuti verlor fünf Brüder und eine Schwester. Sie wurden ermordet. Ganze Familien verschwanden. Mit Niyonshuti beginnt Tim Lewis’ Buch. Der junge Radrennfahrer darf in London am Mountainbike-Wettbewerb der Olympischen Spiele 2012 teilnehmen und sagt: „Ich will das Rennen nur beenden.“ Er belegte Platz 39.

 

Das war der vorläufige Höhepunkt der „erstaunlichen Geschichte des ruandischen Radsportteams“, die man gebannt liest und nicht mehr aus der Hand legen will. (Ich habe es an drei Tagen drei Mal in die Hand genommen und je 100 Seiten gelesen.) Amagare heißen Fahrräder in der Landessprache Ruandas. Viele gab es auch zur Jahrtausendwende nicht, und die, die es gab, waren alte Kisten. Nun kam Besuch aus den USA: Zehn Jahre nach den Massakern schaute zufällig Tom Ritchey vorbei, der mit Fahrradkomponenten reich geworden war (Ritchey steht auch auf dem Lenker meines Rennrads). Er war in einer Krise, und hier gab es etwas zu tun!



Boyers zweite Chance

Kaffeebauern mussten ihre Säcke rechtzeitig abliefern und brauchten Fahrräder. Ritchey entwarf stabile Transporträder und gründete nebenbei, als er die athletischen ruandischen Radler sah, 2007 ein Radsportteam. Damals gab es schon seit 2001 die „Tour von Ruanda“. Als Trainer holte er Jonathan „Jock“ Boyer, der in den 1980-er Jahren Radprofi und der erste Amerikaner bei der Tour de France gewesen war. 2002 wurde er wegen Kindesmissbrauchs verurteilt – er hatte eine Beziehung zu einer Minderjährigen gehabt – und saß acht Monate im Gefängnis. Er bekam von Tom Ritchey seine zweite Chance.

 

Boyer hielt es zwar für ein „Ding der Unmöglichkeit“, aber bald hatte er fünf junge Leute zusammen, die viel versprachen. Adrien war dabei, Rafiki, Nyandwi Uwase, Nathan Byukusenge und Abraham Ruhumuriza. Adrien Niyonshuti versprach am meisten. Er war diszipliniert und motiviert. Das südafrikanische Team MTN-Qhubeka verpflichtete ihn, und auf deren Homepage steht: „Adrien hat bei Etappenrennen eine große Zukunft. Er ist ein guter Kletterer, der erst nach 5 Stunden im Sattel aufdreht. Wir müssen erst entdecken, wie gut er in unserem Sport wirklich ist.“ Unter den Fahrern sind auch drei Deutsche, die beiden Kölner Andreas Stauff und Gerald Ciolek sowie Martin Reimer aus Cottbus.

 

Tim Lewis schildert uns detailliert und farbig, wie Ruanda sich im Radsport allmählich einen Namen macht. Es ist ein packendes Buch, mit Einfühlung geschrieben. Und der Autor erzählt kein Märchen, sondern erzählt, wie es ist. In Ruanda lebt man in der Gemeinschaft. Die Familie zählt. Unser Individualismus, unser Ehrgeiz ist unbekannt, von Taktik weiß man nichts, und Teamwork ist ein Fremdwort: Das Team ist die Familie.



Jock Boyer biss sich an den Sportlern die Zähne aus. Die jungen Ruander griffen wild an, ließen sich dann wieder hängen oder kurz vor dem Ziel gar einholen, als hätten sie Angst vor dem Sieg. Eine „große Zukunft“, die man ihnen ankündigte, verstanden sie nicht. In sieben Jahren kann man Afrikaner nicht zur Profireife bringen. Man braucht dazu eine Engelsgeduld.

 

Doch viel ist erreicht worden. Die zweite Etappe der Tour of Rwanda 2013 wurde von zwei Ruandern entschieden: Valens Ndayisenga (Team Rwanda Akagera) vor dem „Veteran“ Abraham Ruhumuriza (Rwanda Karisimbi), einem der damaligen „glorreichen Fünf“. Das Trikot für den besten ruandischen Fahrer durfte sich Jean-Bosco Nsengiyumva überziehen, der in der Gesamtwertung Sechster wurde. Ndayisenga wurde als größte ruandische Nachwuchshoffnung geehrt. Weiter fehlt der erste Sieg eines einheimischen Fahrers.

 

Adrien Nyonshuti landete auf dem neunten Platz. Er hatte zuvor acht Monate lang pausieren müssen. Er kommt wieder. Und wir achten in der Zukunft auf den Profiradsport in Afrika, da ist etwas in Bewegung.



 

Text Manfred Poser, November 2013


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