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Geschichte internationaler Radsport



Tod auf und an der Radrennbahn



Text und Bilder von Renate Franz



Der „Schwarze Sonntag“ von Berlin



Zeitungsbericht
50 Jahre später

Am 18. Juli 1909 kamen während eines Rennens auf der Bahn „Botanischer Garten“ neun Menschen ums Leben, rund 40 wurden schwer verletzt. Dieses Ereignis ging als „Rennbahnkatastrophe“ oder „Schwarzer Sonntag“ in die Geschichte des deutschen Radsports ein. Ungewöhnlich an diesem schrecklichen Unfall war, dass die Opfer ausschließlich Zuschauer und keine Rennfahrer waren.



Adolf Elsner, Erbauer und Direktor der Rennbahn 'Botanischer Garten'
in Berlin.
Elsner stellte am 11. September 1893 in Breslau mit dem Hochrad auf der Bahn einen
>>> Rekord über 50 km auf.

Erbauer und Direktor der Bahn war der ehemalige Hochradfahrer Adolf Elsner. Die Genehmigung zur Eröffnung war erteilt worden, obwohl die Anwohner in einem Protestschreiben am 1. Juni 1909 gegen die damit verbundene Lärm- und Geruchsbelästigung Einspruch erhoben hatten. Der zuständige Kreisarzt, dem dieser Einspruch vorgelegt wurde, wiegelte die Einwände mit der Bemerkung ab, dass durch den Betrieb auf der Rennbahn kein größeres Geräusch verursacht werden würde als durch den üblichen Straßenlärm einer Großstadt (1). Nach Aussagen der Zeitung Rad-Welt war dies zutreffend: „Die gefürchtete Belästigung der anliegenden Straßen infolge des Motorgeknatters traf nicht ein …, da der enorme Fuhrwerks- und Strassenverkehr das Motorgeräusch nahezu übertönt ….“ (2)

 

So konnte am 18. Juli 1909, einem wunderschönen Sommertag, die feierliche Einweihung stattfinden. Trotz des hohen Eintrittsgelds, zwei Goldmark, war das Rennen sehr gut besucht. Rund 6200 Zuschauer passten auf die Tribünen, was für damalige Verhältnisse vergleichsweise wenig war. (3) Es roch noch nach dem frischen Teer, mit dem die Holzbohlen des Balkenbaus versiegelt worden waren.



Der Radrennsport boomte zu jener Zeit: Allein im Berliner Raum gab es 14 Freiluftbahnen, und erst vier Monate zuvor hatte in einer überdachten Halle nahe dem Zoologischen Garten das >>> erste Sechstage-Rennen in Europa stattgefunden. Diese neue 333 1/3 Meter lange Bahn im Sportpark „Alter Botanischer Garten“ war die einzige Freiluftbahn aus Holz im Kaiserreich, und es ging ihr der stolze Ruf voraus, besonders schnell zu sein. (4) Die Rennfahrer selbst waren laut einer Umfrage der Meinung, 100 Stundenkilometer seien möglich.

 

Es war kurz vor fünf Uhr am Nachmittag, als der Startschuss für das einstündige Steherrennen fiel, dem wichtigsten Wettkampfs des Tages, bei dem Schrittmacher auf Motorrädern, in der Regel Motortandems, den Radfahrern vorausfuhren.



Start des 5-Uhr-Rennens

Stars der internationalen Radsportszene waren angetreten wie der Holländer >>> John Stol, der Franzose >>> Henri Contenet oder >>> Fritz Ryser aus der Schweiz sowie der Lokalmatador, der 24jährige Europameister >>> Arthur Stellbrink. Zwei Rennfahrer gingen mit Schutzbrillen an den Start. Darauf angesprochen sagten sie, die mit Karbolineum getränkte Bahn sei noch nicht ganz trocken und das Hinterrad der Führungsmaschine habe im Training Tropfen nach hinten versprüht.



Stol
Contenet
Stellbrink


Besonders dicht gedrängt standen die Leute in der Nordkurve zur Potsdamer Straße, von wo aus sie die beste Sicht hatten. Der Startschuss fiel, die Motorräder der Steher knatterten vor den Radfahrern hinweg, wie wild geworden rasten die Gespanne über die ölige, geteerte Bahn.

 

Nach etwa 20 Kilometern stürzte der Schrittmacher Werner Krüger, der den Rennfahrer John Stol führte, bei einem Überholmanöver mit seiner Maschine – wahrscheinlich war der Hinterreifen durch Abrieb des noch feuchten Belags geplatzt. Der Steuermann des folgenden Führungstandems, Emil Borchardt, versuchte auszuweichen, sein Motorrad flog über die Bande in die Zuschauermenge in der Nordkurve, der Benzintank explodierte. (5)

 

Im Sport-Album der Rad-Welt wurde der Hergang so geschildert: „… Borchardt, der Steuermann des Ryserschen Tandem, musste, um einen Sturz zu vermeiden, scharf nach oben abbiegen. Bei dem scharfen Tempo vermochte er aber die Maschine nicht zu halten. Sie lief in waagerechter Haltung ungefähr 10 m an der Balustrade entlang und flog dann in hohem Bogen mitten zwischen die Zuschauer.“ (6) Es erschallte ein Entsetzensschrei aus Tausenden Kehlen. Und eine Stichflamme schoss von der Nordtribüne aus meterhoch zum Himmel.

"Auf der Kurvenplatzseite brennt lichterloh ein Motorwagen, Motorräder und Rennfahrer überstürzen sich, einzelne von ihnen fliegen wie abgeschossene Kanonenkugeln auf den Sandplatz des Innenraumes. Motorräder und Fahrräder sausen die Bahn herab, die Zuschauer springen bleich und aufgeregt von ihren Sitzen, ein Moment ratloser Bestürzung herrscht unter den Tausenden von Zuschauern" (7), berichtete ein Augenzeuge dem Berliner Tageblatt später. Das Feuer breitete sich rasant aus - die frisch geteerte Bahn lieferte ausreichend Zunder. Unter dem brennenden Motorrad wurden Zuschauer begraben. Getränkt mit Benzin fingen ihre Kleider Feuer. Schreie waren zu hören. Brennende Menschen liefen umher: „Es entstand eine furchtbare Panik.“ (8)

 

"Vom Sattelplatz aus sieht man eine beherzte Gruppe von Männern um den brennenden Motor hantieren, mehrere Menschen werden unter dem feuerspeienden Motor hervorgezogen", beschrieb ein Zeuge. "Die erste Verunglückte ist eine Dame. Ihre schwarze, spitzenbesetzte Kleidung steht in hellen Flammen, eifrige Hände reißen ihr die brennenden Fetzen vom Leibe, bis sie in Hose und Hemdfetzen dasteht." (9) Sechs Menschen kamen sofort in den Flammen um, über 40 wurden schwer verletzt. Drei weitere Menschen starben später im Krankenhaus. Von dem Unglück gibt es einen einzigartigen Schnappschuss, welche damals bei Sportveranstaltungen selten gelangen.

seltener Schnappschuss


Der Berliner Radsportjournalist >>> Fredy Budzinski, dem Dramatischen geradezu liebevoll zugetan, taufte das Ereignis „Schwarzer Sonntag" und schrieb wenige Tage später unter der Überschrift "Mors Imperator" („Kaiser Tod“):



Skizze der Unglücksstelle

"Mit übermenschlicher Kraft packt der Schwarze die Maschine mitsamt der Mannschaft, hebt sie empor und schleudert sie mit furchtbarer Gewalt in die dichtgedrängten Zuschauer hinein. Eine Flammengarbe steigt empor. Schauerlich beleuchtet die Riesenflamme die Stätte. Als die Flamme verlosch, warf der Schwarze den Mantel und die Maske ab und zeigte sich dem Volke. Seht, ich bin überall, heute hier, morgen in Brüssel, ich der Mors Imperator." (10)

Das Berliner Tageblatt schrieb am 20. Juli 1909: „Auf der Unfallstelle fand gestern Nachmittag bereits ein Lokaltermin statt, an dem höhere Gerichtsbeamte, Vertreter des Polizeipräsidiums und mehrere Feuerwehroffiziere teilnahmen. […] Die Rennbahn wird längere Zeit gesperrt bleiben. Es erscheint überhaupt fraglich, ob sie in diesem Zustande wieder freigegeben werden wird.“ (11)



Erste Untersuchungen des Unglückhergangs
und der Brandstelle am 19. Juli 1909


Kritik an Konstruktion und Organisation

Noch am Unfalltag übten Experten in Zeitungsartikeln heftige Kritik an den mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen der provisorisch errichteten und womöglich übereilt eröffneten Rennbahn. Angeblich gab es kein Sanitätszelt, keine Tragbahren und auch keinen Notarzt. Außerdem sei kein Löschwasser-Hydrant in der Nähe, sodass die anwesenden Feuerwehrleute den Brand nicht sofort bekämpfen konnten – später wurde zu bedenken gegeben, dass dieses Benzinfeuer ohnehin nur mit Sand hätte gelöscht werden können. (12) In den Zeitungen rätselten Polizeibeamte, Brandoffiziere und Ingenieure noch Tage später, wie es zu dem Unglück kommen konnte.

 

Einer der Gründe für den Umfang des Unglücks war wahrscheinlich der damals verwendete Kraftstoff. Da die Vergaser damals noch nicht effizient arbeiteten, wurde der Kraftstoff „volatiler“, also leichter verdampfbar, gemacht, damit er sich leichter mit Sauerstoff vermischen konnte, war deshalb aber auch hochentflammbar.

Auch kamen die Beobachter zu dem Schluss, dass die Bahn mit nur acht Metern Breite viel zu schmal gewesen sei, sodass die Fahrer kaum Platz zum Überholen gehabt hätten. Zudem hätte das Publikum besser geschützt werden müssen, zum Beispiel durch "eine doppelte Barriere mit einem Zwischenraum von etwa anderthalb Metern", wie der langjährige Leiter des Sportparks Treptow, Ernst Wilke, damals schrieb. (13)



Die Holzrennbahn 'Botanischer Garten ' während des Baus


Am Donnerstag nach der Katastrophe fand eine Protest-Versammlung der Anwohner statt, die angesichts des Unglücks die Beseitigung aller Sportanlagen im Botanischen Garten forderte und schließlich beschloss, eine Beschwerde beim Polizeipräsidenten einzulegen. Nahezu hämisch kommentierte die Rad-Welt am 24. Juli, also gerade mal sechs Tage nach dem Unfall: „Der Ruf nach der Polizei ist vielen Leuten in Fleisch und Blut übergangen und noch nie hat es etwas Neues auf der Welt gegeben, gegen das nicht protestiert worden wäre.“ (14)

 

Noch in der gleichen Woche wurden in Preußen vom Innenministerium Radrennen mit Motorschrittmachern verboten, was die Rad-Welt auf die „Hetze“ und „Sensationsmache“ in anderen Zeitungen zurückführte. (15) Kreise außerhalb des Radsports übten also sehr wohl Kritik, während sich die Verantwortlichen uneinsichtig zeigten. So äußerte sich der Direktor des Sportparks Steglitz, Ferdinand Knorr: „Der Radrennsport würde durch ein Aufrechterhalten des Verbotes auf das schwerste gefährdet werden.“ (16) Zwar räumte er ein, dass der Schutz der Zuschauer verbessert werden müsse, das Verbot jedoch unmöglich zum Schutz der Fahrer und Schrittmacher gedacht sein könne. Dann müssten auch Motorräder auf den Straßen verboten werden. Sollte das Verbot aufrechterhalten werden, kündigte er rechtliche Schritte dagegen an. Die Zeitung Rad-Welt wies sämtliche Vorwürfe, Organisator, Fahrern oder Schrittmachern Mitschuld zu geben, empört zurück, ereiferte sich aber hingegen über das vorläufige Verbot der Rennen sowie über die Berichterstattung in anderen Zeitungen, in denen von „Brutalität“ und „Bestialität“ die Rede gewesen war. (17) „[es] … flogen viele Federn über das Papier, um einen gegen den Radrennsport lange gehegten Hass zum Ausdruck zu bringen. In der Beschimpfung der Radrennen und der Rennfahrer sah die […] Presse ihre Aufgabe ….“ (18)



neue Bestimmungen und Folgen

Schon am 17. August, vier Wochen nach dem schweren Unglück, wurden neue Bestimmungen für Rennen mit Schrittmachern herausgegeben und diese wieder erlaubt. Zum einen sollten die Zuschauer durch bauliche Maßnahmen besser geschützt, zum anderen die Geschwindigkeiten bei den Rennen gedrosselt werden. Die Verlangsamung sollte unter anderem durch das Verbot eines künstlichen Windschutzes sowie die Versetzung der Schutzrolle 40 Zentimeter weiter nach hinten erreicht werden. (19)

 

Für die Betreiber der Bahn hatte das Unglück weder finanzielle noch rechtliche Folgen. Die Opfer hatten sich zusammengeschlossen, um die Rennbahnverwaltung zu verklagen, die immerhin versichert war. Die Gutachter vor Gericht gaben trotz der Kritik von vielen Seiten an, dass man mit einem derartigen Unfall – vor allem mit der Explosion des Motors auf der Zuschauertribüne – letztlich nicht habe rechnen können. Ausschlaggebend war das Argument, dass die Baupolizei die Abhaltung von Rennen schließlich gestattet habe. Damit wurden die Ansprüche der Opfer zurückgewiesen. (20)

Die Anwohner hingegen hatten mehr Erfolg: Die Bahn sowie weitere Sportanlagen im „Botanischen Garten“ wurden im Frühjahr des darauf folgenden Jahres abgebaut bzw. abgerissen, und die Radrennbahn als „Olympiabahn“ in Plötzensee wieder aufgebaut.

letzter Renntag auf der Bahn 'Botanischer Garten':
Großer Preis der Industrie
Stellbrink - Ryser - Robl - Günther
Stellbrink und Ryser hatten auch am 'Schwarzen Sonntag' teilgenommen.


business as usual

von links nach rechts:
Adolf Elsner - Georges Parent - Werner Krüger

Die Rennfahrer und Schrittmacher ließen sich – zumindest nach außen hin – wenig von diesem Unglück beeindrucken. Einzig vom niederländischen Rennfahrer John Stol ist bekannt, dass er es anschließend ablehnte, Rennen mit Motorführung zu fahren (21), angeblich auf Bitten seiner Eltern hin. Einer der Schrittmacher wurde wegen seiner Rettungsversuche später mit einer Medaille ausgezeichnet.

 

Obwohl es häufig zu tödlichen Unfällen kam, betrieben die Rennfahrer „business as usual“. Schon wenige Tage später etwa verunglückte der belgische Rennfahrer >>> Karel Verbist in Brüssel tödlich, und kurz darauf starb der holländische Schrittmacher Hendrik Hayck an den Folgen eines Unfalls, den er im April in Köln erlitten hatte. Der Schrittmacher Werner Krüger, der beim „Schwarzen Sonntag“ noch mit dem Leben davon gekommen war, verunglückte 1931 auf der Radrennbahn in Köln tödlich, nachdem es wenige Wochen zuvor seinen Kollegen Constant Ceurremans „erwischt“ hatte. In den Zeitungsartikeln, die über Ceurremans’ Tod berichteten, wurde der eigentliche Grund eher verschleiert. (22) Nach Krügers Tod im Juli 1931 schrieb der Journalist Erich Kroner jedoch erbost: „In letzter Zeit häufen sich die Unglücksfälle auf dem Zement, hervorgerufen durch allzu draufgängerische und rücksichtslose Fahrweise einiger Unverbesserlicher, die nicht nur mit ihrem Leben, sondern auch mit dem anderer spielen. […] Und wenn sich herausstellt, dass die Rücksichtslosigkeit eines anderen den Tod dieses Besten der Besten verursacht hat, dann muss die Schuld durch die allerschärfste Strafe gesühnt werden!“ (23) Um prompt wenige Tage später zurückzurudern: „Wir stehen auf dem Standpunkt, dass die Staatsanwaltschaft absolut nichts mit der Angelegenheit zu tun hat, denn es handelt sich um einen sportlichen Wettbewerb, bei dem sämtliche Teilnehmer fortgesetzt in Lebensgefahr schweben.“ (24)

 

Bei den zahlreichen Unfällen, die damals auf den Rennbahnen passierten, kamen in Regel Fahrer oder Schrittmacher ums Leben. Die Fahrer mussten eigentlich vor jedem Rennen der Tatsache ins Auge sehen, dass es ihr letztes sein konnte.



Willi Schmitter starb 1905
Fotomontage 'Blutige Bahnrennen'

Beim Unfall in Berlin war keiner der Fahrer zu Tode gekommen, ausschließlich Zuschauer. Aus den Zeitungsberichten zu dieser „Rennbahnkatastrophe“ geht hervor, dass kurz zuvor auf der Pariser Buffalobahn zwei Zuschauer gestorben waren, die sich über die Bande gebeugt hatten und denen von einer Schrittmachermaschine die Köpfe zerschmettert worden waren.



Dickentman und Ryser hinter Motortandems

Zur Kaiserzeit waren die Dauerfahrer hinter Motoren die Gladiatoren, die dem täglichen Leben mit ihren lebensgefährlichen Vorführungen die vermeintlich nötige Würze verliehen. Sie wurden als Helden gesehen, die „typisch deutsche“ Eigenschaften vorwiesen wie Durchhaltevermögen und Siegeswillen. Und ihr Tod wurde nahezu selbstverständlich hingenommen: „Der gefahrvolle Beruf der Dauerfahrer hat manches Opfer gefordert, aber man darf diese bedauerliche Begleiterscheinung des Sports nicht zu tragisch nehmen, denn jeder Sport bringt eine Gefahr mit sich. In der Ueberwindung der Gefahr liegt der Reiz beim Sport, und wie der Krieg die höchsten Mannestugenden auf dem Felde der Ehre auslöst, so löst der Sport im friedlichen Kampfe um die Ehre gleichfalls die Tugenden aus, die am Manne am höchsten geschätzt werden.“ (25) Dazu schreibt der Wissenschaftler Renè Schilling in seinem Buch „Kriegshelden“: „Die Glorifizierung des Todes nahm im gesamten bürgerlichen Lager bis 1913 immer hybridere (hier: vermessenere) Formen an.“ (26)

 

Rabenstein bezeichnete Gigantismus und Rekordsucht der damaligen Zeit als „Erscheinungen, die insbesondere um und nach der Jahrhundertwende in den Bereichen Technik und Sport auftraten“: "Insofern liegt der Radrennsport im Trend der Zeit, die an den absoluten Fortschritt glaubt und alles für machbar hält, was der Mensch mit Hilfe von Technik und Naturwissenschaft angeht.“ (27)

 

Die Zuschauer verehrten ihre Sportidole: Sie kauften täglich die Zeitung Rad-Welt, in der nicht nur über die sportlichen Erfolge der Fahrer berichtet wurde, sondern auch über deren Privatleben. Sie sammelten Postkarten mit den Bildern ihrer Helden, gingen auf Autogrammjagd und „nach Todesstürzen zu Tausenden auf die Beerdigungen“. (28) Das Sport-Album der Rad-Welt hatte eine regelmäßige Kolumne „Die Toten der Rennbahn“, und der Journalist Wolfgang Gronen schrieb viele Jahre später, die Rad-Welt habe bis in die 30er Jahre hinein vorgefertigte Nachrufe von Rennfahrern „auf Lager“ gehabt. (29)



Von 1899 bis 1928 ereigneten sich nach der Rechnung von Budzinski 47 Todesstürze, eine Zahl, die mir persönlich als zu niedrig erscheint. Dabei kamen 33 Steher und 14 Schrittmacher ums Leben. Nicht zu vergessen die Zahl der Rennfahrer, die aufgrund schwerer Verletzungen ihren Beruf nicht länger ausüben konnten und oftmals als Invaliden in Armut weiterlebten. Und selbst nach den schrecklichen Erfahrungen des 1. Weltkriegs ging auch das Sterben auf den Bahn weiter: Am 9. Oktober 1918 etwa, vier Wochen vor Kriegsende, verunglückte der populäre Kölner Fahrer >>> Peter Günther bei einem Rennen in Düsseldorf.

Beerdigung
von
Peter Günther 1918
Peter Günther hinter seinem Schrittmacher




Angesichts dieser Schreckensbilanz soll der geläuterte Budzinski Ende der 20er Jahre ausgerufen haben: „Ich wünschte, der Benzinmotor wäre niemals auf die Rennbahn gekommen!“ (30) Die Zahl der verunglückten Rennfahrer ging zwischen den beiden Weltkriegen zurück. Dafür gab es mehrere Gründe: Die Rennbahnen waren immer besser für die großen Geschwindigkeiten konstruiert –tonangebend war hier der Münsteraner Architekt >>> Clemens Schürmann, der auch als erster eine selbst gebastelte Sturzkappe aus einer Pickelhaube mit übergestülptem Damenstrumpf getragen hatte. Die Motorräder wurden sicherer, vor allem die Reifen platzten immer seltener, was häufig Grund für Unfälle gewesen war. Und die Fahrer trugen bessere Sturzkappen, nachdem sie sich lange Jahre sogar gegen Tragen der Kappen gesträubt hatte, um sie auf dem Tank spazieren zu fahren. (31) Erst im Jahre 1935 wurde das Tragen Pflicht.



Zudem hatte das Interesse der Zuschauer am Geschwindigkeitsrausch auf der Radrennbahn nachgelassen, gab es doch nun Autorennen und Flugschauen, bei denen viele Männer, darunter zahlreiche ehemalige Radrennfahrer, ihr Leben riskierten. So starb der deutsche Radsport-Star >>> Thaddäus Robl ebenso bei einem Flugzeugabsturz wie sein weniger bekannte Kollege Franz Seidl aus Wien.



Steher Erich Metze in führender Position

1952 starb der zweifache Dortmunder Weltmeister Erich Metze, nachdem er zwei schwere Stürze mit Schädelbrüchen in den 30er Jahren knapp überlebt hatte. Der letzte Steher, der nach einem Sturz ums Leben kam, war Karl Kaminski, mehrfacher DDR-Meister im Steherrennen. Er starb 1978 nach einem Sturz bei einem Steherrennen auf der Radrennbahn in Leipzig.

 

(Nicht zu vergessen die Todesfälle bei Zweier-Mannschaftsrennen: 1949 stürzte der Berliner Rennfahrer Paul Kroll in der Berliner Sporthalle am Funkturm schwer und starb an einem Schädelbruch im Krankenhaus. (32) Zwei Jahre später ereigneten sich zwei schwere Stürze beim Berliner Sechstage-Rennen auf derselben, extrem kurzen Bahn (153 Meter): Der Niederländer Gerard van Beek starb nach einem Sturz, und wenige Monate später verunglückte der Deutsche Rudi Mirke ebenfalls dort tödlich. 1964 starb der Kanadier Louis de Vos nach einem Sturz beim Sechstage-Rennen in Montreal und 2006 der Spanier Isaac Galvez beim Sechstage-Rennen in Gent tödlich: Er brach sich bei einem Sturz das Genick, zudem hatte eine Rippe seine Lunge durchbohrt.)

 



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Die Liste tödlich verunglückter Radrennfahrer auf Bahn und Straße ist sehr lang. Renate Franz hat eine Zusammenstellung auf Wikipedia veröffentlicht:

>>> Liste von tödlich verunglückten Radrennfahrern

 



Elkes
†1903
Hübner †1907
Darragon †1918
Krupkat †1927


Quellenangaben:

(1) Hans Czihak, Schweres Unglück beim Radrennen, in: Berlinische Monatsschrift Nr. 2/1995, S. 105

(2) Rad-Welt, 6. Juli 1909

(3) Rad-Welt, 14. Juli 1909

(4) Rad-Welt, 8. Juli 1909

(5) Hans Czihak, Schweres Unglück beim Radrennen, in: Berlinische Monatsschrift Nr. 2/1995, S. 106; Berliner Tageblatt, 19. Juli 1909.

(6) Adolph Schulze, Der Radrennsport im Jahre 1909, in: Sport-Album der Rad-Welt, 8. Jg./1910, S. 11.

(7) Berliner Tageblatt, 19. Juli 1909.

(8) Berliner Tageblatt, 19. Juli 1909.

(9) Berliner Tageblatt, 19. Juli 1909.

(10) Rad-Welt, Nr. 138/25. Juli 1909.

(11) Berliner Tageblatt, 20. Juli 1909.

(12) Berliner Tageblatt, 19. Juli 1909.

(13) nach: Der Tagesspiegel, 31. Januar 2007.

(14) Rad-Welt, 24. Juli 1909.

(15) Rad-Welt, 1. August 1909.

(16) Berliner Tageblatt, 25. Juli 1909.

(17) Rad-Welt, 30. August 1909.

(18) Rad-Welt, 25. Juli 1909.

(19) Rad-Welt, 22. August 1909; Adolph Schulze, Der Radrennsport im Jahre 1909, in: Sport-Album der Rad-Welt, 8. Jg./1910, S. 13.

(20) nach: Der Tagesspiegel, 31. Januar 2007.

(21) Rad-Welt, 6. August 1909.

(22) Illustrierter Radrennsport, 26. Juni 1931, S. 713.

(23) Illustrierter Radrennsport, 24. Juli, 1931, S. 823.

(24) Illustrierter Radrennsport, 31. Juli, 1931, S. 854.

(25) Sportalbum der Rad-Welt, 6. Jg., Berlin 1908, S. 53.

(26) Renè Schilling: „Kriegshelden“ – Deutungsversuche heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813-1945, Paderborn 2002, S. 202

(27) Rüdiger Rabenstein, Radsport und Gesellschaft, Hildesheim 1996, S. 95.

(28) Toni Theilmeier, Die wilde, verwegene Jagd: Der Aufstieg des professionellen Stehersports in Deutschland. Manuskriptdruck, Belm 2002, S. 33.

(29) Wolfgang Gronen, Wie schütze ich meinen Kopf?, Manuskript o. o., Archiv Wolfgang Gronen in der Zentralbibliothek der Sportwissenschaften der Deutschen Sporthochschule Köln.

(30) Wolfgang Gronen/Walter Lemke, Geschichte des Radsports, Eupen 1987, S. 277.

(31) Gronen, Wie schütze ich meinen Kopf, maschinengeschriebenes Manuskript, Archiv Gronen in der Zentralbibliothek der Sportwissenschaften der Deutschen Sporthochschule Köln. Ordner „Todesstürze“.

(32) Der Radsport, 14. November 1949.



 

veröffentlicht auf C4F Januar 2011


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