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etc. PP - Posers Prosa

Ernstes, Lustiges, Skurriles von Manfred Poser, futura9



Retro Velo Classica 2010

Bericht und Fotos von Manfred Poser, August 2010 (zum Vergrößern der Bilder bitte darauf klicken)



Die Retro Velo Classica lebt!

Die Tour de France war am 1. Juli 1903 zum ersten Mal gestartet worden, und Maurice Garin gewann. Doch schon im Jahr darauf waren die Veranstalter gezwungen, die vier Schnellsten zu disqualifizieren, weil diese teilweise mit dem Zug gefahren waren. Damals hieß die Seuche Betrug, und Doping war noch kein Begriff. Garin trank seinen Rotwein und rauchte beim Fahren auch manchmal eine Zigarre, wenn ihm langweilig war. Die Skandale rissen jedoch auch in den Folgejahren nicht ab, und die Tour stand zweitweise auf der Kippe; erst 1910 hatte sie sich etabliert.



So ist das mit neuen Veranstaltungen. Wie viele versanden schon nach der ersten Austragung! Meist hat der Gründer keine Zeit oder Lust mehr. Henri Desgrange aber glaubte damals an seine Idee. Und (man beachte die Überleitung) auch Martin Bünz ist überzeugt. Auf seine Anregung hin hatte sich vergangenes Jahr ein Grüpplein zur ersten „Retro Velo Classica“ im südbadischen Kurort Badenweiler getroffen. Dieses Jahr fand das Treffen erneut statt.

 

Der drahtige Norddeutsche hatte wieder die Ärmel hochgekrempelt, die Presse verständigt sowie seine getreuen Helfer, und auch die Teilnehmer der ersten Stunde fanden sich wieder ein. Es war Mitte August, das Wochenende von „Ferragosto“, wie die Italiener es nennen: Mariä Himmelfahrt. Schon Tage vorher war viel Regen prophezeit worden, doch er hielt sich zurück, bis das Rennen zu Ende war. Auch das war ein gutes Zeichen von oben, ein Segen für die Retro Velo Classica.



Initiator Martin Bünz lädt in den gemütlichen Kellerraum


Am Freitag abend konnten sich also alte Bekannte wiedertreffen, man hatte sich 2009 ja schon abgetastet. Zwei Dutzend Teilnehmer, wobei Ostdeutschland mit 4 Sportlern (Leipzig und Halle an der Saale) sowie Schwaben (Tübingen und Reutlingen) mit 6 Teilnehmern gut vertreten war. Die meisten Rennradfreunde kamen aus der näheren Umgebung – Kandern, Müllheim, Badenweiler. Wo waren die Schweizer, Italiener, Franzosen? Der Schweizer vom vergangenen Jahr war ja ein verkleideter Bayer gewesen. Aber keine Sorge, die Retro Velo Classica wird noch international.



Badenweiler

Badenweiler liegt im südlichen Schwarzwald, eingebettet in Hänge und gekrönt von einer Burgruine. Internationales Flair: Shopping, elegante Cafés, Kurpark, die großen Cassiopeia-Thermen, gediegene Paläste an engen Gassen. Das berühmte Hotel Römerbad steht seit 1825 am Schlossplatz, und seither entwickelte sich eine Hotellerie hohen Niveaus. Hundert Jahre nach Gründung des erwähnten Hotels, 1925, erschien der Roman „Maria Capponi“ des Autors René Schickele (1883–1940), der von 1920 bis 1932 in Badenweiler lebte. In seinem Buch (erster Band einer Trilogie) heißt der Kurort „Römerbad“ und das große Hotel „Zum Vogesenblick“. Die Schriftstellerin Gabriele Wohmann hat mit ihrem Buch „Frühherbst in Badenweiler“ dem Ort 1978 ein Denkmal gesetzt.

 

In Badenweiler geht es stramm hinauf zum Hochblauen, 1161 Meter hoch, und in andere Richtung zum Kreuzweg auf rund 1000 Meter. Von ihm ist oft Jan Ullrich mit seinem Pinarello-Rad heruntergejagt, denn Badenweiler war Mitte der 1990-er Jahre Trainingsstandort von Team Telekom, das nunmehr ebenso Teil der Radsport-Geschichte ist wie „Ulle“ selbst. Alles in allem: ein traditionsbeladener Platz. Das Hotel und Kaffeehaus Siegle, auch „Radhotel Siegle“ genannt, wurde 1908 erbaut. Es steht am Hang, und auf der Rückseite hat es einen gemütlichen gemauerten Raum, offen nach außen, der ideal ist für Zusammenkünfte. Da trafen sich die Protagonisten und sprachen über Räder und das Wetter und das für Samstag anberaumte Rennen.



Ein echter Startschuss!

Wer Rennrad fährt, will Rennen fahren. Um zehn Uhr nahmen die Teilnehmer am Schlossplatz Aufstellung. 20 Fahrer waren gemeldet, einer mehr als im Jahr zuvor. Das ist nun nicht gerade ein Quantensprung, aber doch eine Steigerung um fast fünf Prozent. Die älteste Maschine war Reinhard Grauers Brennabor von 1898; verglichen mit ihr war der älteste Fahrer – der 69-jährige Hans Grether – jung. Ein Gruppenfoto wurde gemacht, schon vor dem Start. Und vor uns standen all die alten Renner. Hans hatte vermutlich seinen alten Opel Flitzer unter sich, es gab schlanke Räder aus den 1960-er Jahren ... doch die Räder genau zu betrachten hatte ich keine Muße, denn ich wollte selber starten.


Reinhard Grauer
mit
Brennabor 1898
Ein hübscher blonder Streckenposten und ein skeptischer Autor mittendrin


Welches Rad gilt als alt? Bei der „Eroica“ in der Toskana ist das Stichjahr 1987, aber die Italiener sind da nicht so kleinlich. Aber an ihren Kriterien halten sie fest: außen verlegte Brems- und Kabel-Züge, Schaltung am Rahmen, Schlaufenpedale. Die Klickpedale kamen wohl Anfang der 1990-er Jahre auf, und es gelangte als windschnittfördernde Zutat der Triathlon-Lenker oder „Tria-Lenker“ ans Rennrad. Das erwähne ich, weil ich mein erstes Rennrad, mein im März 1990 gekauftes „Raleigh“, fuhr, das ich zwei Jahre danach mit dem ominösen Lenker bestückt hatte.

 

Dieser war 1989 bei der Tour de France am abschließenden Tag im Zeitfahren von Greg LeMond verwendet worden. Er fuhr die 25 Kilometer in einem Schnitt von 54,545 Kilometern pro Stunde und nahm dem Zweiten Laurent Fignon seinen Vorsprung von 50 Sekunden ab und lag am Ende 8 Sekunden vor diesem – der knappste Abstand in der Tour-de-France-Geschichte. Fachleute schätzen, dass ihm der Lenker den Vorteil von einer Minute gegenüber Fignon einbrachte und der Aero-Helm weitere 16 Sekunden, denn der Franzose fuhr barhäuptig mit Pferdeschwanz.

 

Es muss 1993 gewesen sein, als ich an einer Straße in einem elsässischen Dorf bei Mülhausen saß und ein paar Stunden wartete. Dann kam die Polizei, und endlich flog ein schwarz gekleideter Fahrer einsam vorüber: Laurent Fignon. Er hatte zwei Minuten Vorsprung vor dem Hauptfeld und gewann diese Bergetappe. In dem Buch „Wir waren jung und unbekümmert“, auf Deutsch im Juli erschienen, beschreibt er sein Leben im Sport. Nun ist er soeben 50 Jahre alt geworden: ein Etappensieg. Denn vor einem Jahr wurde bei ihm Darmkrebs diagnostiziert. Er trägt keine Nickelbrille mehr und hat eine Glatze. Die jetzige Tour de France kommentierte er angeschlagen für das französische Fernsehen. Wir wünschen ihm Alles Gute.



Nach dem Foto ein echter Startschuss! Bei der zweiten Retro Velo Classica war das eine Neuerung. Wir quälten uns also schnell die erste Steigung hoch, die 12 Prozent messen mochte, und dann wurde es ernst. Doch dass es ernst wurde, merkte ich erst, als ich von zehn Fahrern überholt wurde. Sie waren von hinten gekommen, hungrig wie wilde Tiere. Ich dachte mir, dass ich sie an den Serpentinen der Kleinen Scheidegg schon noch kriegen würde, doch so schnell ich auch fuhr, war keiner mehr zu sehen.



Auszeit beim Rennen

Heinz von Eick, der mich am Anstieg mühelos überholte

An zwei unklaren Stellen standen Streckenposten und winkten uns weiter: eine Verbesserung gegenüber dem vergangenen Jahr. Ein Streckenposten war weiblich, blond und auffallend hübsch. Das motiviert. Doch ein anderer war noch motivierter. Heinz von Eick, zehn Jahre älter als ich, überholte mich und entschwand. Noch zwei junge Frauen, die aber nicht zum Rennen gehörten, ließen mich wortlos hinter sich. Nun war ich geknickt und hielt an, um einen Nachfolgenden zu fotografieren. Da saß ich also auf der Leitplanke und schaute die Straße hinunter wie damals 1993 vor Mülhausen. Das erinnerte mich an das berühmte Lied „Bartali“ des Italieners Paolo Conte.



Er sitze da, singt er, am Gipfel auf einem Begrenzungsstein und denke über seine Probleme nach. Motorräder kommen vorbei; dann wieder Stille. Welche Strecke mag Gino Bartali zurückgelegt haben, der Mann mit der „traurigen Nase wie ein Anstieg und den fröhlichen Augen eines Italieners unterwegs“ (quel naso triste come una salita / quegli occhi allegri da italiano in gita“)? Die Partnerin des Sängers wollte mit ihm ins Kino, aber er sagte: „Geh doch du (vacci tu)!“ Manchmal sind die Frauen eben nervig, denkt er, von Staub bedeckt, und gleich wird Bartali kommen, die Franzosen ärgern sich, und am Himmel steht schon der Mond ...

 

Auch ich dachte nach und fragte mich: Warum müssen Männer ihre Kräfte messen? Wir kommen aus dem Wald, und es mussten Tiere gejagt werden. Und da war die Frau. Die Männer konkurrierten um sie, und die Frau wählte den Stärksten aus (heute den Reichsten), denn es ging darum, starke Nachkommen zu zeugen, damit die Spezies weiterleben konnte. Das alles ist in uns drin. Aber dann ... muss mann manchmal seine Kräfte mit anderen messen, um zu wissen, wo mann steht. Wir wollen die Wahrheit, nur sie bringt uns weiter. Wir müssen hinaus ins feindliche Leben. "Ja, wo waren überhaupt die Frauen bei der Retro Velo Classica? Nun erinnere ich mich: 13 Männer waren losgeheizt, und eine andere, zweite Gruppe hatte eine kürzere Runde gefahren. In dieser kleineren Gruppe, die uns extrem stark motiviert hätte, waren Britta aus Halle mit ihrem schönen blauen Diamant-Trikot, Brigitte Grauer (die später als rassige Tänzerin glänzen sollte) und Christel Bruns, und man vergebe mir, wenn ich eine Frau vergessen haben sollte. Sie waren da, nur woanders, und wir kämpften vielleicht doch um sie. - Wo blieb eigentlich Bartali?"

 

Es kam nicht Gino Bartali, sondern Michael Faiß mit seinem Peugeot-Renner von 1947, einem echten Tour-de-France-Veteranen und ich machte ein gutes Foto. So war ich nicht ganz alleine; später habe ich ihn eingeholt, und zu zweit sind wir in Richtung Ziel gefahren.

Michael Faiß mit begeisterndem Antritt


Der Tübinger Michael hatte zwei Wochen zuvor 17 Bekannte angeschrieben, ob sie nicht mit ihm am längsten Bahnrennen der Welt in Öschelbronn teilnehmen wollten. Keiner machte mit. Also fuhr er alleine hin. Seit 40 Jahren findet dieses verrückte Rennen statt. 12 Mannschaften à 2 Mann fahren auf dem Velodrom von Öschelbronn, das 200 Meter lang ist, 1001 Runden. Nach 500 Runden gibt es eine Pause. Start um 17 Uhr, und um 22 Uhr war alles zu Ende. Dieses Jahr war der Altersdurchschnitt, wie Michael erzählte, 25 Jahre, und das Tempo betrug im Schnitt 44 Kilometer pro Stunde. 2009 allerdings waren die Fahrer im Durchschnitt 31 Jahre alt und erreichten einen 48-er Schnitt.

 

Da sind wir wieder beim Alter. Ich denke mir: Wenn rüstige Jungsenioren die Berge hochpoltern wie wilde Stiere, muss diesem alternden und überalterten Land nicht bange sein. Der schnellste Fahrer auf dem 40-Kilometer-Stück bis zur Verpflegung war Andreas Stankus aus Dreieich, 47 Jahre alt, gefolgt von dem 67-jährigen Bernd Krüger aus Müllheim. Dritter war der Schnellste des vergangenen Jahres, Peter Kelterbach aus Halle. Der Mann mit dem perfekt erhaltenen Rad und dem „Diamant“-Trikot beklagte sich über die Streckenführung, außerdem sei es „nicht sein Tag“ gewesen; aber aus unterrichteter Quelle war zu erfahren, er habe sich lange mit der Tübinger Fraktion be- und dem Rotwein zugesprochen, über dessen Wirkungen auch Hauke König (Tübingen) Klage führte.

Der Schnellste Andreas Stankus (links) und der Zweite, Bernd Krüger
Unzertrennlich: Hauke König und Michael Faiß aus Tübingen
Thomas,
Peter
und Frank, prüfenden Blickes


Die Rückfahrt

Was konnte ich sagen? Sportler führen ja, wenn sie überholt werden, eine unerklärliche Formschwäche ins Feld, und wenn die Abfuhr deutlich ausfällt, tendieren sie dazu, wie der Fuchs zu reagieren, dem die Trauben zu hoch sind. Ich fahre ja dauernd, aber zum Vergnügen, und wer nicht genug leidet, wird nicht besser. Mein Schweizer Freund François fand eine gute Formel: „Die Strecke war eben zu kurz für dich!“ Und bei der Rückfahrt war ich plötzlich richtig gut, doch wieder kamen sie von hinten, und ich musste eine Fünfer-Ausreißergruppe ziehen lassen. Natürlich denkt man, noch herankommen zu können; doch dafür einen 200-er Pulsschlag zu riskieren, will man auch nicht. DSCN2268 – DSCN2269

 

Peter Kelterbach, als Dritter etwas missmutig
Ein besonders nettes Paar: Uta und Frank aus Leipzig


Jedenfalls war die Rückfahrt schön, und ich erinnere mich an die Fahrt hinunter durch Serpentinen, umgeben von sechs anderen Fahrern, deren Rücken synchron in die Kurven hineinschwangen, und das war wie ein Tanz, der keine Musik brauchte. Das Wetter hielt; erst um vier Uhr nachmittags fielen einzelne Tropfen, und so erreichten wir trocken das Hotel Siegle, wo schon Pasta mit Sauce Bolognaise auf uns wartete. Das war alles schön organisiert worden von Manfred und Roswita Brockmann, die das Radhotel Siegle führen und die guten humorvollen Geister der Veranstaltung waren.

 



Prämierung

Abends wurde wieder gegrillt. Vor dem „Retro Hole“, wie man den gemütlichen Kellerraum nennen könnte, fiel heftig der Regen, und Walter Hurst aus Müllheim machte Musik, die allen gefiel und zu wilden Tänzen anregte. Mit den Schwaben - Michael aus Tübingen, Hauke und Christine aus Metzingen/Münsingen und den Grauers aus Möglingen bei Stuttgart - kann man wunderbar feiern (und zechen: Den Spruch „Schwoobe bliibe hogge“ zitierte Martin B. gern). Peter Kelterbach und seine Britta drehten sich zur Musik, und sogar Martin Bünz tanzte mit seiner frisch angetrauten Frau Sandra. Es war ein ganz wunderbarer Abend, und auch die Retro Velo Classica II war wunderbar, und so machte es richtig Spaß, darüber zu schreiben.

 

Beim lustigen Grillabend am Samstag
Peter und Britta
aus Halle


Zwischendurch wurde prämiert. Reinhard Grauer erhielt einen Preis für das älteste Rad, sein Brennabor. Andreas Stankus war der Schnellste, und Martin Bünz hob hervor, dass er ihn an Didi Thurau erinnerte, der 1977 bei der Tour de France 15 Tage lang das Gelbe Trikot getragen hatte. Stankus fuhr ein graziles Gios-Rad aus Turin.

 

Hans Grether war der Älteste und Hauke König der Lustigste; aber dafür gab es keinen Preis. Michael Faiß erzählte mir von seinen Rockkonzerten, 1976 Genesis mit „The Lamb Lies down on Broadway“ in Stuttgart (das war zwei Jahre davor mein erstes Rockkonzert gewesen), „Yes“ 1977, und „Man“, unvergleichlich! Es ging um die Vergangenheit, aber ein Wochenende wird man sich ja wohl mal ausblenden und ohne Gewissensbisse über früher reden dürfen. Schade, dann musste ich mich verabschieden.

 

Gruppenfoto nach dem Rennen mit 13 der 20 Teilnehmer. Rechts mein „Raleigh“ von 1990 mit dem Tria-Lenker, ein Jungsenior


Heimfahrt gegen Mitternacht bei strömendem Regen. Bäche strömten über die Müllheimer Werderstraße, aber ich pflügte hindurch, fuhr die 15 Kilometer in einer Stunde ab. Dabei dachte ich mir: So schön alte Rennräder auch sein mögen, seien wir froh, in unserer Zeit zu leben! Man will jemandem seinen Dank abstatten, und das tue ich, indem ich die Produkte und Firmen nenne, die zu meinem guten Heimkommen beitrugen. Da waren der gute Nabendynamo mit 75 Lux vorn (Busch & Müller), die Regenjacke (Salewa), die Gummihose (Vaude) und die beiden Plastiktüten für die Schuhe (Landkartenhaus Freiburg / Karstadt) – und last but not least hinterher noch die Pfeifentabakmischung Nr. 7 von Wellauer in St. Gallen und der köstliche Kirsch von Winzer Matthias Kiefer (Dottingen).

 

Hoffentlich sind auch die anderen Teilnehmer gut heimgekommen, und dann – wir sehen uns wieder im August 2011!


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