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etc. PP - Posers Prosa

Ernstes, Lustiges, Skurriles von Manfred Poser, futura9



Retro Velo Classica 2009

Bericht und Fotos von Manfred Poser, Juni 2009 (zum Vergrößern der Bilder bitte darauf klicken)



Die gelungene Einladung nach Badenweiler

Einen herrschaftlichen Namen hatte sich der norddeutsche Freund alter Rennräder Martin Bünz für seine Veranstaltung ausgedacht: Retro Velo Classica. Das steht als Überschrift nun schön da. Das Faltblatt, das für das Wochenende im Kurort Badenweiler warb, war ebenfalls gelungen: Ein Kranz wand sich um die römische Eins (die erste Retro Velo Classica), und ein Schwarz-Weiß-Foto aus der heroischen Epoche des Radrennsports machte Lust auf heiße Kämpfe mit alten Stahlrössern.

 

Leider ließen die Anmeldungen auf sich warten. Derzeit gibt es einen Boom für „demokratische“ Rennen – oder wie sollte man sie sonst bezeichnen? „Jedermann-Rennen“ klingen zu sehr nach Mann und würdigen den Mitmacher (welche Frau würde teilnehmen wollen?) zu einem schnöden Otto Normalverbraucher herab; allein wegen dieses Namens sollte man solchen Rennen fernbleiben. Auch Freizeitsportler würde man nicht gerne hören wollen, Amateure sind etwas Anderes, und Liebhaber-Rennen (denn Amateur heißt ja eigentlich Liebhaber) klänge zu verniedlichend.

 

In Neuchâtel machten Belgier Werbung für eine Veranstaltung, bei der man die flämische „Ronde“ fahren kann, wie es die Profis tun, Freiburg rief für Anfang August zur „Velonale“ (diesen technokratisch wirkenden Ausdruck hat man sich sogar rechtlich schützen lassen), und auch in Italien sollen im Gefolge der „Eroica“ neue kleinere Rennen gegründet worden sein. Bei den meisten geht es darum, Radsportlern das Gefühl zu verschaffen, wie Profis zu fahren und sich wie solche zu fühlen. Das gehört zum Erlebnisfaktor unserer Zeit: Jeder kann ein Star sein.

 

Es trafen sich auch Ende Juli in Freiburg Oldtimer-Freunde bei der ADAC-Schauinsland-Klassik, und in Landsberg am Lech wurde die Herkomer-Rundfahrt für Motorfahrzeuge bis 1930 ausgetragen. „Retro“ ist anscheinend beliebter als je zuvor, was man durchaus als Kommentar zu einer ausgebrannten Konsum- und Industriegesellschaft lesen darf. Aber ein „Spaßfaktor“ ist auch dabei. Die Teilnehmer dürfen aussteigen auf Zeit, sich verkleiden, andere Rollen annehmen.

 

Bei der 'Retro Velo Classica' ging es jedoch um alte Räder, die mindestens 20 Jahre alt sein sollten. Die Kandidaten mit alten Rennrädern muss man erst einmal finden. Bei den Veranstaltungen, an denen ich teilnahm, gab es immer nur ein winziges Grüpplein mit alten Rennern. Marco LeBreton zum Beispiel fuhr ein Rennrad von 1911, und da war in Neufchatel auch die attraktive Genferin mit ihrem französischen Modell aus den siebziger Jahren. Es muss Tausende alter Rennräder geben, und wo sind sie? Mein erster Renner, das „Raleigh“ von 1990, war jedenfalls knapp zu jung, also holte ich mir wieder das bewährte Tebag von 1936 und trat als Schweizer Landesmeister an.



Der Schweizer Meister bei seinem Sieg im 100-Meilen-Rennen von Neuchâtel im Mai 2009


750 Kilometer Anfahrt

Teilnehmer Michael Faiß mit dem Talbot 1937. Gute Haltungsnoten!

Das Glück war dem Veranstalter hold. 19 Fahrer waren doch zusammengekommen und aus diversen Teilen der Republik nach Badenweiler in den Südschwarzwald gereist. Drei kamen aus Ostdeutschland (Halle an der Saale und Leipzig), ein guter Teil aus schwäbischen Regionen (etwa: Tübingen); Frankfurt und Mannheim waren vertreten, und mehrere Teilnehmer kamen aus der näheren Umgebung.

 

Wenn es einen Preis für radsportlichen Geist gegeben hätte, er wäre wohl an Frank und Pete aus Leipzig gegangen. Sie führen die Firma „retrovelo“, die schöne, alt anmutende und gemütlich zu fahrende Alltagsräder bauen (traumhaft fotografiert auf Kuba), stießen wegen der Namensgleichheit im Internet auf Badenweiler, luden ein paar Räder ein und fuhren 700 Kilometer durchs Land, um zu zeigen, dass in der alten DDR „nicht alles schlecht war“ (sagte Piet – oder Frank). Na klar, Diamant! Schon 1895 baute die Firma bei Chemnitz Räder, angeblich der älteste deutsche Hersteller, und Peter Kelterborn, der mit seiner charmanten Begleiterin von Halle an der Saale sogar fast 750 Kilometer Anfahrt hatte, brachte ein blitzsauberes Diamant-Modell von 1936 mit, einen Altersgenossen meines „Tebag“, glanzvoll restauriert.



Peter Kelterborn aus Halle an der Saale. Fast wie Bruce Willis in Die Hard IV.

„Retrovelo“ bauen in Handarbeit Räder mit leichten Farben, die auf eigens entwickelten Ballonreifen vom Typ „Fat Frank“ rollen. Da gibt es feine Modelle von elfenbeinerner Farbe und filigrane Räder für Frauen, deren Exponenten der Klassik-Serie „Klaus“ und „Paul“ heißen, „Paula“ und „Klara“. Für Experten: gemuffte Rahmen aus Chrom-Molybdän-Stahl mit Drei-Platten-Gabelkopf; Nabendynamo und Shimano-Nexus-Schaltung serienmäßig (www.retrovelo.de).

 

Peter, der Hallenser, beim Rennen ließ er nichts anbrennen, zischte den Berg hoch und war weg. Aber nicht vorgreifen! Freitag abend saßen wir gemütlich in einem Innenhof, und imposant nahm sich die Reihe der im Keller aufgebockten Maschinen aus: Die (der?) Brennabor von 1898 war ein Schmuckstück, auch der Opel Flitzer von 1929 (ohne Gangschaltung) wurde bewundert; zwei Diamanten (1935 und 1936), ein Wanderer von 1930, eine NSU von 1928 und das Talbot 1937 waren die weiteren Vorkriegsmodelle, gefolgt von NSU 1949, Adler 1948 und den hübschen schlanken Pferden aus späteren Jahren – Gazelle 1971, Eddy Merckx 1974, Peugeot 1982, De Rosa 1984 ... alle ein Traum, und so standen wir um diese Räder herum und musterten Schaltung und Rahmen und Lenker.



Das war so der Abend zum Kennenlernen, bei einem leichten Büffett mit Wein und einer kleinen Ansprache des Veranstalters.

So etwas heißt immer „geselliges Beisammensein“


Die ganze Woche über war es regnerisch gewesen, aber der Abend zeigte sich freundlich und den Radfahrern wohlgesonnen. Badenweiler ist ja überhaupt ein sehenswerter Ort mit der Burg oben, dem berühmten Hotel „Römerbad“, den Überresten römischer Thermen und einem beschaulichen Kurpark. Hierher kamen Reiche und Fremde, um zu kuren; der große Anton Tschechow starb hier im Juli 1904; andere Intellektuelle, die keiner mehr kennt, liebten den Ort, so die Autoren René Schickele und Annette Kolb. Die Kurverwaltung tut ihr Möglichstes, um neue Gäste in den traditionsreichen Ort zu locken, aber die Gästestruktur ist seit langem überaltert; damit, so könnte man etwas sarkastisch formulieren, passte sich die Retro-Veranstaltung gut ins Ambiente ein.



Rennfahrer-Geschichten

Vor zehn Jahren war der Ort einmal Trainingsstützpunkt von Team Telekom mit Bölts, Guerini und Jan Ullrich, und vermutlich stehen in einigen Kellern noch Pinarello-Modelle, die dann in zehn Jahren bei der Retro Velo Classica mit dabeisein dürfen. Also: Zeit zum Reden. Da saß Rolf Rost aus Lörrach, der viel zu erzählen hatte. Er war mit seiner Frau 1989 aus der DDR ausgebürgert worden. In den neunziger Jahren arbeitete er als Mechaniker bei den Schweizern und betreute auch die im Ausland unter Vertrag stehenden Profis, wenn sie in der Schweiz Rennen fuhren (Meisterschaft, Weltcuprennen, Rundfahrten ).“

 

Rolf erzählte von Alex Zülle, der „zu gut“ war für die böse Profi-Welt, von Mauro Gianetti, der einmal auf einer Kreuzung mit dem Auto extra anhielt, um sich bei ihm für seine Arbeit zu bedanken; er erzählte von überheblichen Fahrern, die eigentlich nur frustriert waren, weil der große Erfolg ausblieb – und von Eddy Merckx, den er nur einmal hatte treffen wollen. Dann geschah es. Eddy saß an einem Tisch und kaute an einer Wurst herum, Rolf näherte sich; Eddy nahm einen Zettel, schrieb sein Autogramm darauf und reichte es seinem Fan, bevor er sich wieder seiner Wurst widmete. Eddy sei nie arrogant gewesen, meinte Rolf, und immer ein fairer Sportsmann. In Badenweiler fuhr Rolf Rost denn auch ein wunderschönes Eddy-Merckx-Fahrrad von 1974.

Detail des Eddy-Merckx-Rades von 1974
Die Campagnolo-Schaltung! Tullio C. erfand die Schaltung 1927


Schön, so ein Abend, um sich kennenzulernen. Morgen dann: das Rennen. Oder die Ausfahrt.



Scheideck

Der Südschwarzwald ist Hügelland. Gleich nach der Aufstellung auf dem Schlossplatz mit Fototermin in Anwesenheit der Lokalpresse geht es links streng hoch, mit schätzungsweise 10 Prozent Steigung.

Vier Starter mit einem missmutigen Rolf links
Und nochmal fünf Starter, links die hübsche Christl


Der Schweizer Meister, der bei seinem legendären Sieg im 100-Meilen-Rennen von Neuchatel den See entlangbrausen konnte, fühlte sich plötzlich wie von einer unsichtbaren Hand zurückgehalten. Der „kleinste Gang“ wirkt ziemlich dick, wenn man nur drei hat und sechs Prozent Steigung vor sich.

 

Hans Grether auf dem Opel 1929 und Martin Krach auf der NSU von 1928 waren wie früher ganglos unterwegs, aber doch sah der Schweizer Meister später oft nur den Rücken Martins, der sich im energischen Wiegetritt voranwuchtete. Ich sah einen dynamischen Fahrer mit guten Waden, zehn Jahre jünger als ich, doch ich sah es auch mit Missvergnügen. Wie gesagt: Peter und der älteste Fahrer, der 66-jährige Bernd, waren längst weg, und wir näherten uns dem kleinen Pass, der Scheideck hinter Kandern, und Rolf Rost, der sich wegen leichten Übergewichts etwas schwer tat (vor dem Fotografen sagte er stets, er müsse seinen Bauch einziehen, was ihm gut gelang), sagte so wahr, dass man in Gesellschaft den Berg nicht so richtig merke, man fahre und sei dann oben.



So leicht war’s dann doch nicht, es zog in den Oberschenkeln, und oben auf der Hochfläche neben dem Sandstein-Kirchlein und an der Verpflegungsstation zog auch der Wind. Den Himmel überzogen Wolken, dann ging es nochmal hoch und hinunter, und schließlich blieben sechs Alt-Rennfahrer übrig nebst drei „Guides“, die sie über kleine Wege hinüberlotsten nach Efringen-Kirchen und weiter nach Müllheim und durch kleine Dörfer, während es allmählich wärmer wurde. Bekanntes Terrain für mich, nur wirkten alle Anstiege unbekannt streng, doch immerhin hielt, wenngleich knarzend, das Material, die Gruppe hielt zusammen und die Moral war gut. Wer meist alleine auf Tour ist, fährt gern einmal mit anderen; man plaudert mit dem einen und dem andern und unter anderem ergibt sich, dass zwei der „Guides“ sich jeden Samstag in Müllheim zum Training treffen, das wäre für mich ideal (und jetzt finde ich die Visitenkarte nicht mehr).

 

Der letzte Kilometer durch den Kurort, auf der Höhe der Cassiopeia-Thermen fuhr ich, der leidlich zufriedene und weidlich erschöpfte Schweizer Meister, an vier französischen Touristen vorbei, und einer deutete überrascht auf mich und stieß, an seine Freunde gewandt, fasziniert hervor: „Uff! Regarde!“ Ich war beglückt und tat so, als sei ich öffentliche Aufmerksamkeit gewöhnt – und zischte hinunter. Da saßen auch die anderen Vermissten vor ihren Nudeltellern, das Paar aus Frankfurt, Hans Grether und die anderen 10 Piloten und Pilotinnen. Wir hatten also am frühen Nachmittag 110 Kilometer in den Beinen. Es war zu spüren. Spaghetti waren noch da, für alles war gesorgt, und nun war die Ausfahrt eigentlich schon absolviert.

Vier Spielerfrauen


Siegerehrung

und Reinhard Grauer mit ihren gelungenen Kostümen

So konnte guten Mutes und bei warmem Wetter und blauem Himmel zur Siegerehrung geschritten werden, die sogar die Sonne beleuchtete. Verdientermaßen wurden Brigitte Grauer (Wanderer 1930) und Reinhard Grauer (Brennabor 1898) für ihre Kostüme geehrt, Peter Kelterborn (Diamant 1936) als schnellster und Bernd Krüger als zweitschnellster (und gleichzeitig ältester) Fahrer; für die weiteste Anreise bekamen Pete und Frank von „retrovelo“ eine Flasche Wein und einen Fahrradroman (wobei der Preis eigentlich Peter und seiner Begleiterin aus Halle gebührt hätte); Christel Bruns aus Stadtallendorf (Bauer 1957) wurde als schnellste und ausdauerndste Frau (von zweien) geehrt und der Autor als einziger „Ausländer“, der wiederum für die Schweiz Ehre eingelegt hatte. Diese Ehre reicht er hier postwendend weiter an Françcois Cauderay (Rehetobel), der ihm das famose „Tebag“ geliehen hatte.

 

Er selber, der Autor, durfte wie am Abend zuvor Bücher signieren, was ihm zuvor noch nie passiert war. Der Darsteller des Schweizer Meisters durfte nun also noch den Bestsellerautor mimen, was seiner Psyche guttat. Aber anscheinend ging es der Psyche der anderen Teilnehmer auch gut, wir stellten die Tische zusammen und fachsimpelten und redeten bei badischem Rotwein, und so muss das sein.



Veranstalter Martin Bünz im Molteni-Trikot


Das war also die „Retro Velo Classica“, richtig „retroveloanisch“ gut war sie. Das Adjektiv stammt von unseren Freunden in Leipzig; ich würde eher für „retroveloso“ plädieren, das klingt brasilianisch entspannt. Der schöne Name und unsere herzliche Verabschiedung nach einem harten Renntag jedenfalls sind ein gutes Zeichen. Auf einem Faltblatt im nächsten Jahr könnte sich der Kranz um eine römische Zwei winden, die alten Römer nicken zustimmend, denn: Geschichte wird gemacht.


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