Cycling4fans HOME | LESERPOST | SITEMAP | KONTAKT | ÜBER C4F












 

Urlaubsberichte



Hoch zum Mortirolo über den Passo del Tonale, Juli 2008

von Manfred Poser, Dezember 2008



Auffahrt zum Mortirolo

Im Winter blickt man gern aufs Jahr zurück und sagt sich: Gut, dass ich das oder jenes gemacht habe. Da war ein Gedanke; man hat ihn festgehalten und überlegt: Wäre das nicht toll? Hat davon geträumt, dann auf eine Landkarte geschaut, hat seine Pläne erweitert und – es tatsächlich gemacht. Nun darf man auch davon schreiben. Und die Geschichte passt ja gut zu Checkers Rezension des Buchs „Die legendären Anstiege des Giro d’Italia“ von Peter Leissl.

 

Ende Januar hatte mir oberhalb des Bodensees eine Autofahrerin, die mich einfach übersah, das Massetani-Rennrad unter dem Körper weggeschossen, wie man das aus den alten Western kennt, wenn das Pferd unter dem Indianer zusammenbricht und dieser in den Staub fliegt. Ich flog auf den Asphalt, verstauchte mir nur das rechte Handgelenk, aber das Rad war im Eimer. Ende März holte ich mir ein neues: ein blütenweißes „Mortirolo“ von Wilier Triestina aus Karbon für 1.800 Euro. Die Firma stammt aus Bassano del Grappa bei Vicenza, gegründet anno 1906. Fiorenzo Magni fuhr lange für sie, Marco Pantani in den Jahren 1997 und 2003, also vor und nach seinen größten Erfolgen. Als er Erfolg hatte, schrieb die Firma ironisch auf ihrer Homepage, „kam ein größerer Fisch“.

 

Wilier hat Campagnolo-Ausstattung. Als italienischer Tifoso muss man einmal Campagnolo fahren. An das laute Schnarren im Leerlauf muss man sich jedoch erst gewöhnen. Es hat immerhin den Vorteil, dass man keine Glocke braucht: Beine hochnehmen – und etwaige (der Schweizer sagt: allfällige) Fußgänger drehen sich (wenn sie nicht stocktaub sind) augenblicklich um und machen Platz. „Weggeschnarrt!“ grinste Helmut einmal. In Italien muss ja alles Lärm machen, nicht zu wenig, und das beste Beispiel ist der Ferrari.

 

Mortirolo. Das hat Klang. Erinnert an Motorola, wobei wir nicht an die Handys denken, sondern an das Profiteam, dem 1993 Lance Armstrong vorstand und in dem auch Fabio Casartelli fuhr, 1995 tödlich bei der Tour verunglückt. Mortirolo erinnert an Martyrium, vielleicht auch an den Tod (la morte). Der Pass liegt im Trentino, 35 Kilometer nördlich von Madonna di Campiglio, und seit 1990 ist er in Abständen im Giro-Kalender zu finden. Leonardo Sierra hat ihn als erster überquert, Marco Pantani folgte 1994 (im Internet gibt es auf Youtube eineinhalb Minuten davon, mit spanischem Kommentar, „ha atacado Marrco Pantani!!“, Link), und seit seinem Tod zehn Jahre später heißt der Preis auf dem Pass „Cima Pantani“. Anfang Juli wollte ich den Mortirolo fahren; das muss einfach sein, wenn dein Rad diesen Namen trägt.



38 Grad in Cesena – 18 in Malè

Es lag nicht unbedingt nahe. Ich wollte mit dem Volvo bei Cesena (20 Kilometer von Marcos Geburtsort Cesenatico entfernt) ein Bild abholen für eine Ausstellung. 38 Grad zeigte das Thermometer, es war zwei Uhr nachmittags, und ich begab mich nach Einpacken des Bildes (ein Werk, das Joan Mirò 1987 angeblich aus dem Jenseits einer Frau übermittelt hatte) gleich wieder Richtung Norden, rollte an Verona vorbei, und als es auf Trient zuging, war es schon weniger heiß.



die Südrampe
Quelle: www.salite.ch

Ich hatte mir auf der Karte einen Ort ausgeguckt, dessen Name mir gefallen hatte: Malè im Val di Sole, dem Sonnental. Das wäre ein guter Startplatz. Auch ohne erotisches GPS-Stimmchen fand ich hin. Abgezweigt von der Hauptstraße; eingemündet auf einen beschaulichen, kleinen Platz, der von Häusern und Hotels eingekreist war. Leider waren gleichzeitig mit mir auch zwei große Wolken nach Malè gekommen. Kaum stand mein Wagen, kamen Windstöße auf und es fing zu regnen an. 18 Grad allerhöchstens. Die Hitze in der Poebene war zwar erdrückend gewesen, aber so hatte ich das auch nicht gemeint.

 

Das sei nicht weiter beunruhigend, sagte mir die Verwalterin des Hotel „Puller“, eine sanftmütige schlanke Frau aus Brixen, die mich irgendwie an eine Engländerin erinnerte: Lockenkopf, Brille auf der Nase, Lächeln auf den Lippen. Ihr 70-jähriger Mann war schlaksig, unrasiert mit Stoppelfrisur, etwas wacklig auf den Beinen, aber auch er ein standhaft fröhlicher Mensch. Das Abendessen nahm er neben der Besitzerin des Hotels ein, einer 88-jährigen eleganten Dame.

 

Am nächsten Morgen: Sonnenschein. Ich wollte nach Madonna di Campiglio wegen Pantani, was woanders auf diesen Seiten genauer nachzulesen ist. Das Wetter für den Tag darauf verhieß nichts Gutes, aber auch nichts Dramatisches: Es nähere sich eine Schlechtwetterfront – doch am Morgen war das Wetter gut. Ich fühlte mich wie Superman, als ich im Rennradtrikot nach unten ging zu meinem Rad. So fühlte ich mich, weil die meisten Gäste des Hotels Puller zu einer Rentnertruppe aus den Marken gehören, die auf ihren Morgenspaziergang warteten. Das Durchschnittsalter betrug 70, und man selber mit knapp über 50 ist plötzlich ein ganz Junger, der gleich über den Passo del Tonale muss und dann hinauf auf den Mortirolo.



Kleines Hindernis vor dem Mortirolo: der Tonale

Patriotisches Monument auf dem Passo del Tonale. Zu beachten der Stein mit der Aufschrift "Zona sacra", heiliger

Der Passo del Tonale ist rund 1.800 Meter hoch, und da Malè (kommt übrigens von Mela, Apfel, und ist Dialekt; hat also nichts mit dem Bösen, il Male, zu tun!) auf 700 liegt, erwarteten mich also insgesamt 3.000 Höhenmeter. Wie immer hatte ich die Karte nur flüchtig angeschaut, nur die Entfernungen betrachtet und die Erhebungen ignoriert, kleine Fahrlässigkeit, sollte einem Profi nicht passieren; andererseits: Wer richtig gut ist, steht drüber und kommt drüber. Mit dem Auto auf den Passo del Tonale fahren und von dort ...? Nein, tut man nicht, da müsste man sich ja schämen.



Der Pass war 1997 beim Giro d’Italia Etappenziel, verrät uns Checker in seiner Buchrezension. Hatte ich nicht gewusst. Die Tonale-Hochfläche mit ihrem großen Parkplatz und einem merkwürdigen Monument habe ich noch im Kopf, dorthin ging’s eben hoch (nicht eben, eher hoch, aber eben hoch), aber auch nicht schlimm, sechs Prozent werden es gewesen sein. Dahinter geht’s eben runter (auch da nicht eben), damit hatte ich gerechnet, und dann denkt man immer wieder: Gott, das musst du alles wieder zurück! (Der Rückweg ist dann immer weniger schlimm, man hat’s geschafft, man ist zum Hotel unterwegs, wie mit Flügeln ausgestattet.) Bei der Abfahrt rauscht man an einem Schild vorbei, das „Gavia“ sagt und etwas im Inneren auslöst. Stimmt, ein Pass mit 2.000 Höhenmetern, Schauplatz von Dramen.

 

Die Fahrer des Giro kommen meist von Madonna di Campiglio herunter, zischen den Gavia hoch, auf der anderen Seite hinunter, den dran anschließenden Mortirolo hoch (von jenseits, wo er richtig arg ist, mit 10,5 Prozent im Schnitt) und machen dann vielleicht auch noch den Aprica ... 6.000 Höhenmeter. Die kann man als 25-Jähriger vielleicht ohne Doping machen. Ich würde danach zwei Ruhetage brauchen, allerdings geht es beim Giro meist mit neuen 200 Kilometern weiter, bergauf und bergab, es ist mörderisch, und in der „Doping-im-Radsport“-Diskussion, die gerne von Leuten vom Sofa aus geführt wird, vermisse ich manchmal Hinweise darauf, wie massakrierend Etappenrennen sind. Die meisten haben keine Ahnung, wie das ist, wenn man körperlich und geistig völlig ausgepumpt ist, foxi, platt, geschafft, nur noch in der Lage, vor sich hinzustarren und sich die Treppen hochzuschleppen.

Die meisten Fahrer geben alles und gewinnen in zehn Jahren vielleicht eine Etappe bei einer großen Rundfahrt; ein Tag Ruhm, um dann wieder im Peloton die Drecksarbeit zu machen. Schwitzen, trinken, beschleunigen, die Gruppe führen, bis die Energie alle ist, sich zurückfallen lassen, am Etappenort ankommen, ohne dass eine Sau etwas von einem wissen will, duschen und essen, das Gesamtklassement muss man gar nicht anschauen, man liegt auf Platz 88 oder 132, wichtig ist, wo der Capitano steht, und morgen geht’s weiter, der Körper ist eine Maschine, die funktionieren muss, wenn man sein Gehalt sich verdienen will. Ein Börsenmakler verdient sein Geld leichter. Ein Journalist auch.



Auf geht’s!

Das Dorf Incudine liegt 910 Meter hoch, und die Auffahrt zum Mortirolo von Süden ist nicht so schlimm wie die von Norden, von Mazzo her. Die höchste Steigung beträgt hier 13 Prozent, dort 17. Gleich ging’s eine hübsche Rampe hoch, dann durch ein Wäldchen und durch den Ort Monno, immer noch steil. Am Ortsausgang überholte mich schon der zwanzigste Motorradfahrer, und ich beklagte mich darüber bei einer etwa 40-jährigen Frau, die gleich mir die Serpentinen hochfuhr, aber auf Skiern mit kleinen Rädern drunter, denen sie mit Stöcken Schwung gab. Beeindruckend!

 

Es ging wieder ins Freie, und so fahrend, dachte ich mir, dass die Bergstraße hinauf zum Mortirolo eine intime, nette Strecke sei. Die Straße ist schmal und schmiegt sich richtig an den Berg an, unspektakulär und harmonisch, führt durch weitere Wäldchen und windet sich tüchtig und effizient dem höchsten Punkt entgegen, der dann, nach einem Ausflugsrestaurant, gar nicht leicht zu finden ist. Der Mortirolo heißt wohl auch Passo della Foppa und verbindet das Val Camónica mit dem Veltlin. Ist das so? „Der eigentliche Pass ist der Foppapass (1852 m)“, belehrt uns www.quaeldich.de, „der eigentliche Mortirolo (1896 m) liegt in Richtung Monno etwas oberhalb.“ Ein starker Zug zum Eigentlichen, den ich leider verwässern muss, denn auf dem Bild mit dem Schild, vor dem ich fotografiert wurde, steht der Passo del Mortirolo mit der Höhenangabe „1.851 m“. Und dann gab es noch ein Schild ohne Höhenangabe, vor dem ich auch zu sehen bin. Oben war ich also, zwei Mal sogar, aber wo liegt dann der Foppa? Mögen sich die Berggeister darum streiten.

Erstes Gipfelschild mit Höhenangabe 1851 m, das seltsamerweise mitten im Wald lag.

Zweites Gipfelbild
mit Gipfelschild
ohne Höhenangabe.


Oben breitet sich schütterer Wald aus, und man muss ihn schon durchqueren, um plötzlich im Freien zu stehen mit Blick nach unten. Das war ja gar nicht so schlimm! Ich fotografierte also mein Rad, rollte zurück, dann kamen zwei Motorradler hinzu, die mich netterweise auch ablichteten (vor erwähnten Schildern) und erzählten, sie seien zu einem „Moto-Raduno“, einem Motorradtreffen also, am Stilfser Joch gekommen. Darum also die vielen Motorräder! Beim Anstieg zum Passo di Tonale hatte ich bei 160 zu zählen aufgehört. Am Ausflugsrestaurant traf auch die eisenharte Italienerin mit ihren Skiern ein, aber ich wollte zurück, es war halb drei, mit drei weiteren Stunden musste ich rechnen, und die Wetterlage war unberechenbar.





Musik und Tanz

Die Rückfahrt ging recht gut. Kurz vor der Abzweigung nach Madonna di Campiglio holten mich zwei Italiener ein aus Perugia, die gerade eingetroffen waren und sich warmrollten. Ich zischte hinter ihnen her, und das war schön, weil sie auch weiße Rennräder fuhren. Die „Squadra bianca“ war also unterwegs. Gavia und Mortirolo wollten sie nächste Woche machen, von Madonna di Campiglio, also die in Aussicht gestellten 6.000 Höhenmeter. Ich wünschte Glück und fuhr weiter, zum Duschen.

 

Abends hatte ich die Ehre, dem Verwalter, der mich in sein Herz geschlossen hatte, gegenüber zu sitzen und mit ihm zu speisen. Es gab Pasta, Fleisch, Salat, so viel Weißwein, wie ich wollte, der Saal war voll, und dann kam auch eine alte Frau aus Ancona zu mir, der (und dessen Mann) ich beim Frühstück von meinen Plänen erzählt hatte. „Haben Sie’s geschafft?“ fragte sie, und Spannung war auf ihrem Gesicht zu lesen. „Hab ich“, erwiderte ich stolz, und sie drückte meine Hand strahlend mit ihren beiden Händen, das war richtig schön. Der Verwalter kündigte mir einen „guten Musiker“ an, unten im Kellersaal, um neun, er würde sich freuen, wenn ich auch kommen würde ...

 

Dann saß ich unten, im Kamin flackerte ein Feuerchen, und ein glatzköpfiger Italiener mit weißem Unterhemd spielte sich schon an den Keyboards warm. Ein Alleinunterhalter also. Als zwei Dutzend Oldies aus den Marken die Tische besetzt hatten, machte er ernst. Italienische Volkslieder spielte er, von denen ich nur wenige kenne, die ersten Tänzer bewegten sich – wie immer waren die Frauen temperamentvoller, aber es gab auch einen Charmeur, der reihum sich Partnerinnen holte, und irgendwann forderte mich dann die Verwalterin zum Tanz auf, da konnte ich nicht nein sagen. Der Charmeur lachte mich an und meinte, nun müsse ich mit allen tanzen, und so kam es dann fast auch. Mich packte der Übermut. Ich tanzte mit Dicken und Dünnen, mit 85-Jährigen und 75-Jährigen, es gab auch Songs von Lucio Dalla, und der Verwalter schob mich plötzlich einer rumänischen Angestellten in die Arme, einer junge Frau, die richtig Kraft hatte, und so wirbelten wir herum, hörten nicht mehr auf, plauderten auch, bis es dann Mitternacht war.



Die Rückfahrt im Regen

Ich war nassgeschwitzt. Nach den 3.000 Höhenmetern hatte ich also auch auf der Tanzfläche mein Bestes gegeben, zudem das Vorurteil vom tumben, drögen Deutschen gekippt, und der Tanz mit der Rumänin war rasant gewesen ... wenngleich mir ihre Landsmännin, die am Morgen in Tränen aufgelöst sich bei der Verwalterin über eine Kollegin beklagt hatte, besser gefallen hatte, richtig gut sogar, aber sie war nicht da, und das war der Wermutstropfen. Und warum hatte ich nicht länger mit der Frau auf Skiern geredet, mir nicht ihre Telefonnummer geben lassen? So tragisch ist das Leben, man ist immer auf der Flucht, mit dem Fahrrad zumeist, und dann versteht man nicht, wenn die Zeit gekommen ist, innezuhalten.

 

Am nächsten Morgen wachte ich auf, und die Region unterhalb meines rechten Ohrläppchens war geschwollen. Seltsam. (Zuhause konsultierte ich das Internet, was man nie tun sollte und stieß auf die Diagnose: Mumps. Hatte ich nie gehabt. Eine ansteckende Krankheit. Mein Freund Helmut jedoch brachte mich auf die richtige Fährte: Vielleicht habe einfach der Helmriemen auf den betreffenden Lymphknoten gedrückt, was diesem nicht gefallen hatte? Das muss es wohl gewesen sein, denn zwei Tage danach war die Schwellung fort.) Ich belud mein Auto und empfahl mich. Der Verwalter war gut gelaunt; nach fünf Monaten würde seine Saison bald zu Ende sein, und zehn Monate auf der Insel Elba würden ihn erwarten.

 

Mich erwartete schlechtes Wetter. Am Aprica-Pass war eine Rennradler-Gruppe, doch schon bei der Abfahrt (ich mit dem Auto) grollte der Donner, Sturzbäche fielen hernieder, und eine Sekunde war plötzlich gar nichts mehr zu sehen, völlige Dunkelheit bloß noch, und überall kamen mir arme Motorradfahrer entgegen, deren „Raduno“ unter solch infernalischen Bedingungen zu Ende ging. Mit dem Auto war es zu schaffen, aber man muss durch Tirano, über den Bernina-Pass, durch Poschiavo und St. Moritz, über den Julier, bis man bei Chur auf die Autobahn kommt.

 

Das Bild von Joan Mirò lag gut versteckt unter dem Rücksitz (ich lieferte es später in Bern ab, wo es noch bis Juli im „Museum für Kommunikation“ anlässlich der Ausstellung „Goodbye & Hello, im Dialog mit dem Jenseits“ zu sehen sein wird), mein „Mortirolo“-Rad lag hinter mir und stöhnte wohlig im Halbschlaf, träumte vermutlich von großen Taten, und noch 70 Kilometer bis St. Gallen. Das Leben hält viele Überraschungen bereit, man könnte sich das alles schwerlich ausdenken, und im Jahr 2009 muss ich das Bild ja wieder nach Cesena zurückbringen. Vielleicht könnte man da den Gavia schaffen und den Aprica, die Geschichte im Hotel „Puller“ auf andere Weise wiederholen, und so träumt man wieder, schaut auf eine Landkarte und denkt sich: Wäre das nicht toll?


Gazzetta durchsuchen:
 
 
 
 
 
 
Cycling4Fans-Forum Cycling4Fans-Forum