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Geschichte internationaler Radsport



Velorennbahn St. Gallen, Schweiz



Dauerfahrer Castellino gegen den „Neger Vendredi“

von Manfred Poser, Dezember 2008



Vor 100 Jahren schloss die Velorennbahn St. Gallen ihre Pforten

Nur drei Jahre stand sie, die Velorennbahn St. Gallen an der Rehetobelstrasse im Osten der Stadt, und nun steht sie nur noch in den Geschichtsbüchern. Als die 250 Meter lange Holzbahn an Pfingsten 1905 eingeweiht wurde, schwärmten Profis, es sei die „beste Bahn Europas“. Rekordversuche wurden veranstaltet, Show-Rennen, „Fussball-Wettspiele“ und Meisterschaften, und dennoch reichte es nicht: Es gab zu wenige Veranstaltungen, zu wenige Zuschauer, und wegen des Wetters musste manches Rennen ausfallen oder abgebrochen werden, bis dann die ganze schöne Holzbahn selber vor 100 Jahren, im Sommer 1908, abgebrochen wurde.

 

Am 16. März 1905 reicht der St. Galler Velohändler Louis (oder auch Luigi) Andreazzi ein Baugesuch bei der Gemeinde Tablat ein (damals waren Tablat im Osten und Straubenzell im Westen noch eigenständige Gemeinden). Die Piste war auf 6 Meter Breite ausgelegt, die innere Flucht sollte 250 Meter messen.



Vorbild war die berühmte Buffalobahn in Paris. Damals gab es in der Schweiz nur in Thun seit 1890 eine Velorennbahn. Am 26. Mai schiebt Andreazzi eine Ergänzung nach: Nun soll die Bahn einen Umfang von 300 Metern bekommen, und eine 3,50 Meter hohe Bretterwand soll sie umgeben.

 

Louis Andreazzi war ein junger Mann, 25 Jahre alt. Er führte in der Rosenbergstrasse 53 ein Velo- und Sportartikelgeschäft. Seine „Rennbahn St. Gallen“ muss schnell gebaut worden sein, denn am 18. Juni 1905 wurde schon zum Auftakt eingeladen.



Neben diesem alten Haus dehnte sich nach rechts das Gelände der Rennbahn aus. Sie hatte die Nummer des Hauses auf dem Foto,
Nr. 37.

Wer heute von der Rorschacher Straße in die Rehetobelstrasse einbiegt, passiert auf der linken Seite nach einer Litfasssäule das „Restaurant Rennbahn“ mit einem der schönsten Biergärten der Stadt unter einem alten Baum; die Attraktion, nach der es benannt worden war, stand etwa hundert Meter weiter: da, wo die Straße einen Knick nach rechts macht, auf Höhe Hausnummer 37. Das einzige existierende Bild aus der Sammlung Zumbühl wurde vermutlich vom Balkon der alten Villa Nummer 31 gemacht.



Am Pfingstwochenende 1905 wurde ein Eröffnungsfahren ausgetragen, die St. Galler Fliegermeisterschaft, ein Prämienfahren, ein Dauerrennen „mit Motorführung“ und ein „Fusswettrennen“ über 100 Meter. Eine Woche später hiess es von neuem „Auf zur Rennbahn!“ Nun erst die offizielle Eröffnung mit der Stadtmusik St. Gallen. Und: „Berling kommt.“ Berling, „der berühmte und gefürchtete Motorfahrer“ aus Mülhausen! Am 14. August standen die Ergebnisse der Rennen des Tags zuvor schon gross im „Tagblatt der Stadt St. Gallen“. 1905: Über den russisch-japanischen Krieg wurde berichtet, in Rorschach tagte die Rheinregulierungskommission, die Stadtmusik Konkordia gab ein grosses „Frei-Konzert“, das Kantonalsängerfest in Gais fand statt und der Sparverein „Ameise“ traf sich regelmässig im St. Galler „Bierhof“.



Der Elan am Anfang war gross. Jede Woche stand ein Inserat im „Tagblatt“. 16. Juli: Fusswettrennen, Fliegerrennen, Dauerrennen. 13. August, „bei nicht zu ungünstiger Witterung“: der „bekannte Neger Vendredi“ hinterm Motor (die Radfahrer fuhren hinter einem Schrittmacher auf dem Töff). Dann am 20. August nachmittags 3 Uhr das Duell des „französischen Dauerfahrers Castellino aus Genf“ gegen Vendredi. Der Genfer trat hinter dem „von Laeser geführten 18pferdigen Motor“ in die Pedale, Vendredi wusste sich in der Obhut des gefürchteten Berling, den wir schon kennen. Leider wissen wir nicht, wie der Kampf der Giganten endete. Vendredi heißt Freitag, und es wird kein Zufall sein, dass man den afrikanischen Radfahrer so nannte wie Robinson Crusoes Gefährten aus dem bekannten Buch von Daniel Defoe. Damals gab es kein Fernsehen, und man wollte der Bevölkerung etwas bieten wie etwa die „Riesin Dora“, die tageweise in einem St. Galler Restaurant bestaunt werden durfte.

 

Eine Woche darauf ein „Tandemmatch“ von zwei Paaren gegeneinander, unter ihnen Castellino Vater und Sohn. Angekündigt ferner: ein „grosser Kampf über 10 u. 20 km“ zwischen A. Schulze, Berlin (hinter seinem Schrittmacher A. Starke, Berlin) und A. Marforio, Genf (hinter seinem Schrittmacher C. Lance, Genf). Im Jahr 1906 Rekordversuch von Arthur Stellbrink, Berlin, der einen Angriff auf den Schweizerischen Stundenrekord von 65 km 444 m unternahm (und scheiterte). Damals schaffte also schon ein Bahnfahrer in der Stunde 65 Kilometer! Unter dem Titel „Rennbahn“ vermerkt die Zeitung der Stadt am 15. Mai 1906 mit verhaltenem Stolz: „Auch am Sonntag hatte unsere Rennbahn wieder zahlreichen Besuch; es hätte sich aber erwarten lassen, dass die interessanten Rekordversuche des Herrn Stellbrink aus Berlin ein noch zahlreicheres Publikum herbeilocken würden.“ Da deuten sich schon die Probleme an.



Louis Andreazzi hatte da schon nichts mehr zu tun mit seiner Schöpfung. Die Zeichen standen schlecht. Es gab Meinungsverschiedenheiten in der Leitung, finanzielle Probleme und seit 30. Juni 1905 die Hardauer Rennbahn in Zürich. 1906 wurde in Lugano eine weitere Bahn eröffnet. Andreazzi verkaufte am 1. März 1906 – bereits ein Jahr nach seinem Baugesuch die Bahn an den Bauunternehmer Fidel Lampert in der Nähe der Olma. Der Velohändler verliess die Stadt und zog am 7. Mai 1907 nach Herisau, wo es ihn aber nicht lange hielt: Nach einem halben Jahr liess er sich in Trogen nieder, wo sich vorerst die Spur des Andreazzi verliert. Man weiss noch, dass er von 1907 bis 1911 an dem „Pariser Kinematographen Radium“ in der Leonhardstrasse in St. Gallen beteiligt war.

 

Der Unternehmer Lampert mag auf das Holz oder den Bauplatz spekuliert haben, doch gingen die Veranstaltungen einstweilen weiter. Die Grossen Pfingst-Preise 1906, die Meisterschaften von St. Gallen im August („Während der Rennen Konzert“), doch dann war, wegen des Wetters, immer wieder Pause bis zum Mai. 1906: Im Jahr zuvor hatte es in der Stadt 3'911 männliche und 3'750 weibliche Geburten gegeben sowie 5'270 Todesfälle. Die Warenausfuhr nach Amerika betrug 621 Millionen Franken (ein Plus von 13 Millionen). Die Kantonale Viehzählung ergab 8'000 Pferde (1866 nur 5'525), 111'000 Rindviecher (69'000), 40'000 Schweine (12'000), 7'000 Schafe (18'000).

 

Erwähnt sei noch, dass es vor hundert Jahren den Velo-Club St. Gallen gab, den Bicycle-Club, den Männer-Radfahrerverein und den „Racingclub Adler“. Seit 1900 war die Innenstadt grundsätzlich für den Fahrradverkehr freigegeben. Nun schreiben wir 1907. Wieder war Pfingsten wichtig: grosses internationales Wettrennen „von 8 Stunden nach amerikanischer Art“ mit Schwitzguebel, dem „drittbesten Renner der Welt“, Rheinwald, Lehmann und Lyard, Mora aus Novara und Borgotti aus Mailand. Acht Stunden im Oval!

 

Das Grossereignis des Jahres 1907 war das I. Ostschweizerische Gau-Verbandsfest des Schweizerischen Radfahrer-Bundes am 21. Juli. Es schrieb das „Tagblatt der Stadt St. Gallen“: „Die ‚Radlerei’ ist zum wertvollen Verkehrsmittel geworden. ... Das Rad hat seinen Platz erobert und es wird ihn behaupten, auch neben dem Automobil, denn eines schickt sich nicht für alles.“ Prophetische Worte. Auch hundert Jahre danach sieht man noch einige Velos auf den Strassen. Das Fahrrad hat seinen Platz behauptet und wird ihn noch ausbauen, sollten die Benzinpreise weiter steigen.

 

Die Velorennbahn im Krontal, St. Gallen, überlebte jedoch nicht einmal das Jahr 1908. Verbürgt ist noch ein Fussball-Wettspiel um die Schweizer Meisterschaft zwischen Old Boys Basel I und St. Gallen I. Ende Mai. Irgendwann im Sommer vor hundert Jahren muss die Bahn abgebrochen worden sein. Der Platz wurde bebaut.

 

Wenn man auf der Rehetobelstrasse fährt und der verschwundenen Bahn einen nostalgischen Gedanken schenkt, sollte man auch demnächst einen Besuch im Velomuseum Rehetobel zehn Kilometer weiter einplanen. (Man muss das allerdings telefonisch ankündigen; das Museum wird nur am Wochenende und auf Anfrage geöffnet. Infos sind dort angeschlagen.) Im Ort gleich nach der Kirche rechts hinunterfahren, und auf der linken Seite in einem schönen alten „Gade“ – gleich kenntlich durch ein altes Velo an der Fassade stehen rund 80 alte Velozipede, Drahtesel und Stahlrösser. Einige gut erhaltene hundertjährige sind auch dabei.




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