Das „Land der zweiten Chance“, das der englische Reporter Tim Lewis uns vorstellt, ist Ruanda. Es liegt in Ostafrika, ist etwas größer als Hessen, ist das am dichtest besiedelte Land des Kontinents und grenzt an Uganda, Tansania und die Volksrepublik Kongo. Ruanda ist grün und fruchtbar und wird auch das „Land der tausend Hügel“ genannt. 1994 wurde überall in diesem schönen, kleinen Land gemordet. Todeskommandos der Hutus (sie stellten 85 Prozent der Bevölkerung) zogen aus, um mit Macheten und Gewehren die Angehörigen des Volksstamms der Tutsi (14 Prozent) auszulöschen. 800 000 Menschen wurden hingemetzelt, 10 Prozent der Bevölkerung. 1995 schien Ruanda am Ende.
Die zweite Chance. Deutschland verwaltete Ruanda von 1890 bis 1918, ohne sich besonders zu engagieren. 20 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs zettelte der Machthaber dieses großen mitteleuropäischen Staates mit der zehnfachen Bevölkerung Ruandas einen Krieg an, dem 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen, und 6 Millionen Juden wurden nach seinem Befehl planmäßig ermordet. 1945 war das Land an Ende: zerbombt und demoralisiert. Es wurde von den Siegermächten besetzt. Aber Deutschland bekam eine zweite Chance. Und es nutzte sie.
Auch Ruanda erlebte eine Wiederauferstehung. Präsident Paul Kagame führte es zu einer neuen Blüte. Täter wurden verurteilt, aber wichtiger waren Vergebung und Vergessen. Es gab nur noch Ruander, nicht mehr Hutu und Tutsi. Doch die Wunden waren tief. Der 1987 geborene Adrien Niyonshuti verlor fünf Brüder und eine Schwester. Sie wurden ermordet. Ganze Familien verschwanden. Mit Niyonshuti beginnt Tim Lewis’ Buch. Der junge Radrennfahrer darf in London am Mountainbike-Wettbewerb der Olympischen Spiele 2012 teilnehmen und sagt: „Ich will das Rennen nur beenden.“ Er belegte Platz 39.
Das war der vorläufige Höhepunkt der „erstaunlichen Geschichte des ruandischen Radsportteams“, die man gebannt liest und nicht mehr aus der Hand legen will. (Ich habe es an drei Tagen drei Mal in die Hand genommen und je 100 Seiten gelesen.) Amagare heißen Fahrräder in der Landessprache Ruandas. Viele gab es auch zur Jahrtausendwende nicht, und die, die es gab, waren alte Kisten. Nun kam Besuch aus den USA: Zehn Jahre nach den Massakern schaute zufällig Tom Ritchey vorbei, der mit Fahrradkomponenten reich geworden war (Ritchey steht auch auf dem Lenker meines Rennrads). Er war in einer Krise, und hier gab es etwas zu tun!