Seit dem 2. Juli rollt sie wieder, die Tour de France. Dieses dreiwöchige Radspektakel, das sich auf über 3000 Kilometern durch Frankreich schlängelt und wie jedes Jahr für viele Schlagzeilen auf und abseits der Straßen sorgt. Heute sind es sogar die Fahrer selbst, die sich über Plattformen wie Twitter oder Facebook sofort und gerne auch mal unverblümt zum Renngeschehen äußern und uns so in einer nie dagewesenen Nähe und Direktheit am Geschehen teilhaben lassen. Einen ungefähren Eindruck, wie diese Kurzmitteilungen vor fast 90 Jahren ausgesehen hätten, vermitteln uns die Reportagen des Franzosen Albert Londres, der die Tour de France im Rahmen ihrer 18. Ausgabe 1924 im Konvoi begleiten durfte.
Scheinbar ohne Berührungsängste offenbaren sich ihm „Die Strafgefangenen der Landstraße“ * nach und teilweise sogar während der Etappen. So konnte Frankreichs damals bekanntester Reporter zu jeder Etappe einen Bericht verfassen, die in seiner Zeitung, dem Le Petit Parisien, veröffentlicht wurden. Diese Berichte liegen nun erstmals in einer deutschen Übersetzung von Stefan Rodecurt vor und sind im Juni 2011 im Covadona Verlag erschienen.
Londres, der 1884 in Vichy geboren wurde, hatte sich bereits im Vorfeld mit Reportagen u.a. über die Strafgefangenenlager in Französisch-Guayana oder den 1. Weltkrieg einen Namen gemacht und galt als der Enthüllungsreporter schlechthin. Schließlich hatten seine Berichte sogar dafür gesorgt, dass die Gefangenenlager in der südamerikanischen Kolonie geschlossen wurden. Wie wir heute wissen, ist entsprechendes im Falle der Tour nicht geschehen. Auch wenn es bereits damals im Anschluss an die Tour heftige Diskussionen über die zu langen Etappen und das viel zu harte Rennen gab. So viel hat sich ja vielleicht doch nicht geändert, zumindest was das laute Klagen betrifft.
Verglichen mit heute war diese 18. Tour dennoch ein wahrer Marathon, der sich über 5425 Kilometer erstreckte und in Etappen mit einer Länge bis 480 Kilometern Länge gipfelte. Immerhin gab es nach jeder Etappe einen Ruhetag. Bis zu 20 Stunden quälten sich die Fahrer über Schotterpisten, bevor sie beinahe halbtot vom Rad fielen. So schildert Londres u.a. die Begegnung des Fahrers Jean Alavoine mit einem Verkehrspolizisten, der den erschöpften Alavoine nach einer Etappe von der Straße scheuchen wollte: Alavoine holte ein Messer aus seinem Beutel, hielt es dem Ordnungshüter hin und sagte mit atemloser Stimme: „Hier töten sie mich auf der Stelle.“ Auch, wenn so etwas eine Randnotiz im großen Ganzen ist, so macht es dennoch deutlich, mit welchem Gespür Londres ausgestattet war und so etwas erfassen konnte.
Diese und eine andere Episode, in der ein Kommissär tagelang an das Herz und die Ehre eines Fahrers appelliert, nicht auszusteigen, um bei einem Eintagesrennen ein Hundertfaches an Geld zu verdienen, machen deutlich wie nah Londres an den Fahrern dran war.